Standard: Es gibt antisemitische Muslime, ist der Islam an sich antisemitisch?

Lohlker: Das Judentum hatte gegenüber dem Christentum immer einen etwas schlechteren Stand, wegen der Auseinandersetzungen des Propheten Muhammad mit jüdischen Stämmen, bis hin zur deren Vertreibung. Aber historisch ist es dann so gewesen, dass alle Minderheiten relativ friedlich mit dem Islam gelebt haben. Aber es gab natürlich in der Geschichte Momente, wo Jüdischsein von Nachteil war - Minderheiten sind immer gefährdet, von Mehrheiten angegriffen zu werden.

Der Antisemitismus selbst ist erst in der Neuzeit virulent geworden - kann aber eben auf einen älteren Traditionsbestand zurückgreifen. Ein Übergreifen des europäischen Antisemitismus würde ich mit spätestens den 30er-Jahren ansetzen. Die Protokolle der Weisen von Zion sind mit Interesse aufgenommen worden, denn arabische Intellektuelle kannten dieses "Modell": Der erste panarabische Kongress - der in Wahrheit nie stattfand - war so ein angeblicher Geheimkongress.

Die erste belegbare Übersetzung der Protokolle ins Arabische von 1926 stammt von einem lateinischen Katholiken in Jerusalem: Die christlichen Minderheiten sind die Einzugslinie, über die solche Vorstellungen nach Nahost gekommen sind. Die erste muslimische Übersetzung ist für 1951 nachweisbar. Inzwischen gelten die Protokolle leider in der Essayistik - nicht bei den Historikern - als sichere Quelle. Es gibt heute gut verankerte antisemitische Vorstellungen, die bis zum Scheich der Al-Azhar-Universität, Tantawi, reichen, der in den 60er-Jahren eine - jetzt neu aufgelegte - Schrift über die Beni Israel (Israeliten) vorgelegt hat, die nicht anders als antisemitisch zu nennen ist.

Standard: Welche Rolle spielt da der Koran?

Lohlker: Es gibt exegetische Diskussionen darüber, ob die heutigen Juden mit den Juden im Koran verwandt sind, ob die verschiedenen koranischen Bezeichnungen, Yahud und Beni Israel, identisch sind und ob sich die Verurteilung der Juden im Koran auf eine bestimmte Personengruppe zu einer bestimmten Zeit bezieht - oder ob es in der "Natur des Judentums" liegt, gegen die Muslime und die muslimischen Gemeinden zu handeln.

Standard: Und im politischen Islam ist das dann alles noch ein bisschen schlimmer.

Lohlker: Da gibt es die direkte Aufnahme westlicher antisemitischer Vorstellungen - etwa die Vorstellungen, dass die Medien jüdisch kontrolliert sind, und wenn das nicht empirisch begründbar ist, dann sind es eben die Hintermänner oder die im Vorzimmer.

Aber das moderne islamistische Denken ist verknüpft mit der religiösen Tradition: Die wird nicht instrumentalisiert, wie es manchmal heißt, sondern in einer bestimmten Weise gelesen, die - muss man sagen - erst einmal legitim ist. Das ist nicht einfach nur "nicht der richtige Islam", auch wenn es viele Muslime gibt, die nicht so denken.

Der Islamismus ist eine autoritäre Bewegung, die den Islam in eine moderne Ideologie umwandelt. Wenn man daran denkt, dass die NSDAP von den Passionsspielen in Oberammergau begeistert war, sieht man jedoch, dass es diesen Zusammenhang zwischen Religion und autoritärer Bewegung auch in Europa gegeben hat. Da ist die Moderne auch zu befragen, eine doppelte Frage: an die Muslime und an die Europäer.

Standard: Wie schwer wiegt in der Entwicklung des islamischen Antisemitismus die Palästina-Frage?

Lohlker: Gerade die Muslimbrüderschaft in Ägypten hatte früh das Thema der Einwanderung in Palästina aufgenommen, es gab große Demos, jüdische Geschäfte wurden angegriffen. Aber auch die NSDAP-Ortsgruppe in Kairo bemühte sich, ihre Ideen von der Gefährlichkeit von Judentum zu verbreiten, auch im Irak hat die deutsche Botschaft eine unrühmliche Rolle gespielt. In Palästina selbst gab es seit den 20er-Jahren Übergriffe auf jüdische, auch auf nicht zionistische Gemeinden, vielleicht auch als Ausdruck des Kampfes zweier Linien, des Husseini-Clans, zu dem der damalige Großmufti von Jerusalem gehörte, und die Nashashibis, die eher mit den zionistischen Organisationen zusammenarbeiteten. Was den Nahostkonflikt betrifft, sehe ich eine Verschränkung: die neue Auseinandersetzung plus einen Rückgriff auf die Tradition. (DER STANDARD, Printausgabe, 6./7./8.12.2003)