Dizzee Rascal
Boy In Da Corner
(Musica)

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Der 19-jährige Londoner Dylan Mills alias Dizzie Rascal veröffentlicht mit "Boy In Da Corner" das HipHop-Album des Jahres. Dreckige Beats und böse Reime zwischen allen Stühlen.


Der Ballast muss weg. Und er kommt weg. Wenn einer in seinem Pass das Geburtsjahr 1985 stehen hat und als Geburtsort nicht die USA, sondern Großbritannien anzugeben hat, fällt bezüglich der übermächtigen Vorgaben des Hiphop-Genres schon einmal ein guter Brocken weg. Deshalb klingt und spricht Boy In Da Corner, das Debütalbum des jungen Dylan Mills alias Dizzie Rascal aus Ostlondon, auch nicht in erster Linie vom "Respekt", den man in seinem Umfeld mehr als in anderen Bereichen der populären Musik seinen Vorgängern, Gründervätern, Vati und Mutti pflichtgemäß schuldet. Dieses in jeder Hinsicht überbordende Debüt eines Menschen kurz nach dem Abbruch der Schule fährt dem Hörer ganz einfach gesagt über das Gesicht.

Wo andere, der Großteil, viele, manche oder immer wieder welche das alt und ehrwürdig und zu Puff Daddy gewordene Geschäft des HipHop vor allem auch aus einer historisch nachbetrachtenden Sicht her bearbeiten, verfeinern oder weiterentwickeln, fasst sich Dizzie Rascal ein großes Herz und, sagen wir es auf Deutsch, kippt alle Vorgaben über Bord. Was über Bord geht und das Schiff trotzdem weiterhin schwimmen macht, das geht auch gut.

Dizzie Rascal arbeitet dabei vor allem auch mit der Zusammenführung bisher unvereinbarer Bestandteile. Kalte, harte, trockene Techno-Beats, schnarrende Drumcomputer-Snaredrum-Sounds, zischelnde Hi-Hat-Becken, Drillbohrer-Bass-Motive, alles zusammen ediert auf dem Heimcomputer in strikt ungerader, hektischer Breakbeat-Montage-Technik aus den Häusern Drum'n'Bass, Garage, Techno-Nostalgie im Sinne von Kraftwerk, Klangeffekte aus der Spielhalle, in der Lara Croft täglich ebenso die bösen Feinde erschießt, wie amerikanische Truppen äußerst animiert diverse mischfarbige Feinde erschießen. Ein House errichtet auf den Überresten von Dub und Ragga. Die Dancehall, eine wackelige digitale Bretterbude. Jemand lädt eine Uzi durch.

Dazu spuckt und rotzt der nicht gerade mit einer im herkömmlichen Sinn guten Kopfstimme, dafür aber mit sehr viel Haltung außerhalb der gängigen Rhythmusmuster gesegnete Jungstar Alltagsbetrachtungen und Distanzierungen (Protest wäre zu viel gesagt), dass selbst ein John Lydon seine helle Freude daran hätte. Möglicherweise ist Dylan Mills kein begnadeter Musiker. Möglicherweise wird sich das nach dieser Faustwatsche nicht ein zweites Mal so zwingend punkrockig wiederholen.

Heute aber, hier in diesem gegenwärtigen Jammertal namens HipHop, in dem selbst Missy Elliott oder Jay-Z, zwei alte Säulenheilige bezüglich "Erweiterung der Grenzen und des Spektrums" verdächtig nach einem neu geschlossenen Frieden der hier verorteten "Avantgarde" im Genre klingen (was sollen die aktuellen Arbeiten This Is Not A Test! und Black Album anderes behaupten?), hier im Elend des tittenschwenkenden Angeber-Business ist Dizzie Rascal etwas ganz Wunderbares gelungen. Das hier ist, im positiven Sinn gesprochen, Dreck allererster Güteklasse! Ein Album des Jahres. Neben der Old-school-Düsternisbeschwörung der neu reformierten Mobb-Deep-Verwandten Black moon mit ihrem neuen Tonträger Total Eclipse ist das hier die definitiv heiße Scheiße!

Ähnlich wie The Streets mit Original Pirate Material aus 2002 arbeitet hier ein tatsächlich als "mad scientist" einmal mehr an der Findung der Weltformel. Die Weltformel wehrt sich und zeigt den Mittelfinger. Fantastische Sache! (DER STANDARD, Printausgabe, 5.12.2003)