Die Leiterin der Außenpolitik von DER STANDARD, Gudrun Harrer, nahm im Chat mit derStandard.at zur aktuellen Terrorwelle Stellung. Die Gründe für die neuerliche Eskalation der Gewalt - wie vergangene Woche in der Türkei - liegen laut der Arabistin und Islamwissenschafterin "schon auch in den Ländern selbst".

In den letzten Jahren habe sich die Situation insofern verschlimmert, als die Bedrohung sehr diffus geworden sei: "Jeder und alles ist potenzielles Ziel". An einen Erfolg des US-"War against Terror" glaubt Harrer nicht, wenn dieser nur mit militärischen Mitteln verfolgt wird.

Österreich als mögliches Terror-Ziel ist für Harrer "leider durchaus vorstellbar". Terrororganisationen hielten sich schließlich nicht an Grenzen: "Wir sind betroffen, mit oder ohne Türkei in der EU."

Das Protokoll zur Nachlese

MODERATORIN derStandard.at begrüßt die Nahostexpertin Gudrun Harrer und alle UserInnen zum Chat.
UserInnenfrage per Mail: Wie definieren Sie eigentlich "Terrorismus"? Wie unterscheidet sich der Terror in der Türkei vom anderen internationalen Terror?
Gudrun Harrer Foto: derStandard.at/Petra Eder
Die Terrorismusdefinition, das ist eine der haarigsten Fragen überhaupt. Es gibt keine international anerkannte Definition. Ich meine, dass es ganz klar Terrorismus ist, wenn unbeteiligte Zivilisten als Opfer nicht nur in Kauf genommen, sondern beabsichtigt sind.

Was in der Türkei passiert ist, ist ganz klassischer Terrorismus nach meinem Begriff: Zivilisten als Opfer, politische Ziele, das Ziel, eine Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Und genauso wie zuvor in Saudiarabien richteten sich die Anschläge nicht nur gegen die direkt betroffenen, das heißt in diesem Fall die jüdische Gemeinde und britische Institutionen, sondern auch stark gegen das Land in dem das Attentat passiert.

kalind Was hat sich in den vergangenen 10 Jahren geändert? Ist der Terrorismus wirklich schlimmer geworden?
Gudrun Harrer Es ist insofern schlimmer geworden als die Bedrohung sehr diffus ist, jeder und alles ist potenzielles Ziel, weil es um Destabilisierung als politisches Ziel geht.

Es ist eine Internationalisierung von Gruppen festzustellen, die früher national agiert haben.

paname*** Welchen Zweck verfolgen denn die Terroristen? Die Unterstützung der türkischen Bevölkerung werden sie ja wohl nicht bekommen, wenn sie unschuldige Menschen umbringen.
Gudrun Harrer Dieser Terrorismus in der Türkei ist ein Statement: die Türkei wird von den militanten Islamisten als Feind betrachtet, weil sie den Islam aus den Institutionen heraus hält.

Es stimmt, dass durch diese Art von Terrorismus die Ideologie an Unterstützung in der Bevölkerung verliert, das ist auch in Algerien und Ägypten passiert. Das schlimme ist, dass diese Art von Terrorismus auch die Bürger eines "feindlichen" Landes als Feinde sieht.

kalind Wollen die Terroristen in der Türkei/Saudiarabien wirklich den Westen als mehr oder weniger erfolgreiches Gesellschaftsmodell angreifen oder ist das Propaganda?
Gudrun Harrer In Saudiarabien: das saudische Regime hat ganz bestimmt nichts "westliches", aber es wird als Erfüllungsgehilfe der US-Politik angesehen.

In der Türkei: hier kann man von einem westlichen Modell sprechen, insofern als Staat und Religion getrennt sind. Hier ist bestimmt auch das Gesellschaftsmodell ein Angriffsziel.

dkdkdkdk Inwieweit ist die Politik der USA für die neue Terrorwelle verantwortlich?
kalind Was glauben Sie müssten die Amerikaner tun, um wirklich den Terrorismus zu bekämpfen?
Gudrun Harrer Dass der Irakkrieg dem Terrorismus einen großen Auftrieb gegeben hat, daran besteht wohl kein Zweifel. Es hat viele gegeben, die gewarnt haben. insofern ist die US-Politik verantwortlich.

Aber natürlich sind nicht die USA an all diesen Auswüchsen Schuld. Die Gründe liegen schon auch in den Ländern selbst, besonders natürlich am Mangel von Demokratie und Entwicklung. Nur dort kann der Antiterrorismuskampf ansetzen. Die USA behaupten zwar sie wollen gerade das, ich habe aber noch immer meine Zweifel.

pater hirni Wird sich eine von USA im Irak installierte Regierung überhaupt je halten können?
UserInnenfrage per Mail: Im nächsten Jahr sind US-Wahlen: Angenommen es gibt tatsächlich einen Wechsel an der Spitze der US-Regierung und zukünftig einen demokratischen Präsidenten. Welche Irak-Politik sollte er verfolgen? Schließlich wird sich die USA bis dahin nicht aus dem Irak zurückgezogen haben und ein Rückzug wäre gleichbedeutend mit einer Wiedereinsetzung eines Regimes. Ist das ihrer Meinung nach nicht ein schreckliches Dilemma?
Gudrun Harrer Nein, eine lediglich nur von den USA eingesetzte, nicht von einem irakischen Konsens getragene Regierung wird sich nicht halten können. Außer die USA geben sich zufrieden mit einem neuen Diktator, der ihnen wohlgesonnen ist.

Ja, es ist ein schreckliches Dilemma. Ich glaube, dass ein Rückzug unter den heutigen Umständen eine Katastrophe auch für den Irak wäre. Ich glaube aber, dass auch die Demokraten sich nicht aus dem Irak zurück ziehen werden, es geht für die USA um zuviel.

kalind Ist eine Lösung im Nahostkonflikt Voraussetzung für weniger terroristische Akte?
Gudrun Harrer Davon bin ich überzeugt. Eine Lösung im Nahostkonflikt wird bestimmt nicht den Terrorismus von einem Tag zum anderen verschwinden machen, aber es wird das Pool der unzufriedenen, die die Ideologie der Terroristen indirekt mittragen, stark verringern.

Der Nahostkonflikt wird von den Ideologen für ihre eigenen Zwecke missbraucht. Auch die arabischen und islamischen Medien spielen da eine zwiespältige Rolle.

Giftzwerg Das klassische Problem einer Person die sich mit "Terrorismus" befasst, ist "Wer ist Terrorist, wer ist Freiheitskämpfer". Wie sieht Ihre persönliche Meinung dazu aus?
Gudrun Harrer Ich habe am vergangenen Samstag einen Kommentar dazu in der Zeitung gehabt, wo ich genau dieses Problem für den Irak diskutiert habe. Anders als nämlich bei den palästinensischen Gebieten ist die Besatzung im Irak im Nachhinein durch UNO-Resolutionen legitimiert worden. Die Lage ist rechtlich also nicht eindeutig. Ganz grob würde ich aber sagen, dass sich Widerstand immer nur gegen militärische Ziele, aber niemals gegen Zivilisten richten sollte.
kalind Was für mich so schwer nachvollziehbar ist, dass so viele junge Männer ihr Leben wegwerfen, eine so unwiderruflichen Schritt machen, wenn sie sich in die Luft sprengen.
Gudrun Harrer Deshalb sprechen wir auch von einer "Kultur des Todes". Osama bin Laden hat ja selbst einmal von der Todessehnsucht der muslimischen Männer gesprochen, die sozusagen der westlichen Spaßgesellschaft entgegen gesetzt ist. Grund dafür, sich so fanatisieren zu lassen, wird aber oft auch Verzweiflung am Leben sein.
simmerl Warum hat es so lange gedauert bis die EU die Hamas und andere Terrororganisationen auf ihre Liste gesetzt hat?
Gudrun Harrer Sehr oft haben solche Organisationen einen politischen und einen sozialen Arm. Die Hisbollah etwa ist im Libanon auch eine politische Partei. Die Europäer bemühen sich, den komplexen Realitäten Rechnung zu tragen, aber das geht leider oft schief.
UserInnenfrage per Mail:  Sehen sie einen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und islamistischen TerroristInnen? Wenn, ja, was wäre - vor dem Hintergrund der EU-Studie, wonach die meisten EuropäerInnen "Israel für das Böse der Welt" halten, sowie, dem zurückhalten des Berichts der EU-Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die besorgniserregende Daten zu Antisemitismus bei islamistischen und Pro-Palästinensischen Gruppen beinhaltet, die Aufgabe der EU-Regierungen und der europäischen Medien.
Gudrun Harrer Ich habe keinen Zweifel, dass Antisemitismus, besser Antijudaismus, Bestandteil der extremistischen islamistischen Ideologie ist, das ist ja auch an ihrer Literatur abzulesen. Da wird es schon auch gegenseitige Sympathien geben. Aber ich spreche bitte hier nicht vom Islam an sich.

Zu der Studie habe ich meine eigene Meinung. Die Fragestellung war schlicht idiotisch: Ob Israel (oder ein anderes Land) eine Gefahr für den Weltfrieden darstellt. Gemeint war natürlich die Frage, ob der NAHOSTKONFLIKT eine Gefahr für den Weltfrieden darstellt. Und das kann man mit ja beantworten, weil sich ja Extremisten im hintersten Weltwinkel bei ihren Aktionen darauf beziehen.

Die Rolle der Regierungen und der Medien: 1. Aufklärung, 2. Aufklärung, 3. Aufklärung.

Dume Hat die Europäische Union die Möglichkeit durch ein Gegenbeispiel an gelebter Toleranz der Glaubensrichtungen und Denkweisen, mit einem Mitglied Türkei, die terroristische Bedrohung zu begrenzen und nicht auf das Territorium der Unionsstaaten übergreifen zu lassen? Oder kann die EU-Erweiterung um Kleinasien, weiterer Quell für Terrororganisationen sein?
Gudrun Harrer Natürlich sollten unsere Gesellschaften ein Modell der gelebten Toleranz sein, leider sind sie es nicht immer. Dass sich in der Türkei durch die Annäherung an die EU etwas ändert, sieht man ja bereits. Aber wenn wir uns vorstellen, dass die EU-Außengrenze dann eine Grenze an den Irak wäre, kann man ermessen wie groß die Veränderung für die EU sein würde. Die Schwierigkeiten sind groß, aber als Ziel sollte man die türkische Integration im Auge behalten.

Aber ich glaube, Terrororganisationen halten sich nicht an Grenzen, damit meine ich, wir sind betroffen, mit oder ohne Türkei in der EU.

Giftzwerg Was halten Sie von Meldungen das in Deutschland und Österreich noch immer "Sleepers" von Terrororganisationen auf ihren Einsatz warten?
Gudrun Harrer Das ist leider durchaus vorstellbar. Vor 9/11 hätte sich niemand die Hamburger Terroristenszene vorstellen können.
begali23 Was sagen Sie zur der heute veröffentlichten Meinung Ariel Sharons, dass die große Zahl der Muslime in Europa eine Bedrohung für die in Europa lebenden Juden wären?
Gudrun Harrer Für mich ein sehr unglücklicher Sager. Nicht Muslime sind eine Bedrohung sondern Vertreter einer extremistischen politischen Ideologie. Hier wird eine Religion kriminalisiert und das lehne ich ab.
Giftzwerg Sehen sie einen Unterschied zwischen Terror in z.b. Südamerika und dem Nahen Osten?
Gudrun Harrer Nicht nur das, ich würde sagen, dass fast jeder Fall einzeln zu betrachten ist. Man müsste sich zum Beispiel gerade in Südamerika die Rolle anschauen, die die organisierte Kriminalität spielt usw.
wolf39 Wie kommt es, dass bei den gegebenen Möglichkeiten bislang kein Land mit einer A-Bombe angegriffen wurde? Haben die Terroristen eine Art Restskrupel?
Gudrun Harrer Gott sei Dank ist das nicht so einfach, auch wenn man eine A-Bombe hat, man muss ja auch die Möglichkeiten haben, sie abzuschießen oder sonst irgendwie ans Ziel zu bringen. Das kann heute ganz bestimmt keine Terrororganistation.
simmerl Glauben Sie nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen Islam und antiliberalen Einstellungen gibt?
Gudrun Harrer Wenn dann genauso wie es einen Zusammenhang zwischen Katholizismus und antiliberalen Einstellungen gibt. Spaß beiseite, ich glaube dass jede Religion mit einem absoluten Wahrheitsanspruch antiliberal ist. Deshalb muss ihre Rolle im Staat genau definiert sein. Aber wir sollten hier nicht so tun, als ob wir den Liberalismus erfunden hätten. Im Islam gab es weder Hinrichtungen von Wissenschaftern, noch von Hexen.
wolf39 Besteht die theoretische Möglichkeit, dass der islamische Terrorismus irgendwann einmal sozusagen aus der Mode kommt?
Gudrun Harrer Ich glaube erstens an eine Pendelbewegung, offensichtlich befinden wir uns jetzt in einer besonders kritischen Phase. Andererseits wird man schon etwas bewusst dafür tun müssen, dass der Terrorismus an Unterstützung verliert, das kann nur durch verantwortungsvolle Politik geschehen.
Giftzwerg Wird die USA mit ihrem "War against Terror" erfolgreich sein?
Gudrun Harrer Nicht wenn sie ihn nur mit militärischen Mitteln verfolgen.
Micaela_M Was halten Sie von Michael Moore?
Gudrun Harrer Ich finde ihn wahnsinnig amüsant und pointiert, alles würde ich nicht 100prozentig politisch ernst nehmen, aber es ist das Privileg des Künstlers, ordentlich auf die Pauke zu hauen.
Micaela_M Off topic: Wie schätzen Sie die Situation in Georgien ein?
Gudrun Harrer Einerseits eine Ermutigung: Eine unblutige Revolution gibt den Demokraten in der Region ganz bestimmt großen Auftrieb. Andererseits kann man noch nicht genau sagen, welche politischen Kräfte da nachrücken.
MODERATORIN derStandard.at bedankt sich bei den UserInnen für die rege Teilnahme am Chat und bei Gudrun Harrer fürs Kommen.
Gudrun Harrer Ich danke für die interessanten Fragen, jede einzelne wäre eine Stunde wert gewesen.
MODERATORIN Wir wünschen einen schönen Nachmittag!