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montage: derStandard.at (foto: reuters)
S TANDARD: Welche Note - zwischen eins und fünf - geben Sie dem heimischen Schulwesen? Amon: Eins bis zwei. Niederwieser: Zwei.
S TANDARD: Gibt's Reformbedarf? Niederwieser: Derzeit werden ungleiche Bildungschancen aufgrund der sozialen Herkunft verstärkt. Das Schulwesen sollte integrativer sein.
S TANDARD: Das heißt auch Gesamtschule? Niederwieser: Natürlich. Wir sollten uns aber nicht alle anderen Reformen aufsparen, bis wir uns bei der Gesamtschule einig sind. Reformbedarf gibt es zum Beispiel auch beim Umgang mit dem Schultag: also Nachmittagsbetreuung. Amon: Anpassungsbedarf gibt es immer, weil sich ja das Umfeld ständig verändert. Wir sind uns einig, dass das Bildungssystem Unterschiede aufgrund der sozialen Herkunft ausgleichen soll.
S TANDARD: Wobei Sie wohl kaum den Weg der Gesamtschule einschlagen wollen? Amon: Nein, sicherlich nicht. Niederwieser: Warum sicherlich? Du bist ja noch jung! Amon: Ein differenziertes Bildungssystem, das auf Begabungen, Leistungsfähigkeit und Interesse individuell eingeht, macht Sinn. Die Durchlässigkeit soll aber weiter ausgebaut werden. Für wichtig halte ich Leistungsstandards. So ist der Hauptschulabschluss im städtischen Raum etwas anderes als am Land. Das ist nicht in Ordnung. Niederwieser: Wir sind uns einig, was die Differenzierung betrifft. Es ist nötig, auf das Individuum wesentlich besser als bisher einzugehen. Aber nicht in getrennten Systemen! Amon: Ich bestreite gar nicht, dass es gut funktionierende Gesamtschulmodelle gibt. Aber warum soll ich 80 Prozent der Hauptschulen zusperren, nur weil ich in Städten ein Problem damit habe? Niederwieser: Mich erstaunt immer wieder die Fähigkeit, uns komplett misszuverstehen. Niemand will die Hauptschulen zusperren! Es geht um die Fixierung von Schulstandorten, die nach einem einheitlichen Modell geführt werden. In Europa versteht unser System niemand mehr! Amon: Bayern und Baden-Württemberger verstehen uns und schneiden auch gut ab. Niederwieser: Das sind so ziemlich die Letzten. Amon: Aber erfolgreich. Niederwieser: Die sind auch in einem problematischen System: noch mehr verschiedene Schultypen mit Riesenkosten. S TANDARD: Welche Lehren kann man aus Finnland ziehen? Amon: Positiv ist die Lehrerausbildung mit einer starken Auslese zu Beginn. Alle Lehrer werden an der Universität ausgebildet: zuerst zu Pflichtschullehrern. Erst dann - nach weiterer Selektion - ist ein Fachstudium zur Lehrbefähigung für höhere Schulen möglich. Es fragt sich, ob an heimischen Unis Institute für Pädagogik zur Lehrerausbildung geschaffen werden sollen.
S TANDARD: Stand das nicht in einem SP-Bildungspapier? Niederwieser: Ja. Das ist konsensfähig - aber ohne die pädagogisch-didaktische Qualität der Pädak aufzugeben. Wir möchten auch Instrumente der Zulassung für diesen Beruf haben. Man sollte bereits im ersten Studienjahr erkennen können, ob man geeignet ist. Hilfreich wäre auch, wenn Lehrer den ganzen Tag gemeinsam an den - allerdings dafür völlig neu gestalteten - Schulen verbringen würden. S TANDARD: Darüber scheint's in der ÖVP Meinungsunterschiede zu geben: Wirtschaftskammerpräsident Leitl ist dafür, Sie, Herr Amon, sind dagegen.


Amon: Die Diskussion ist nicht ungefährlich. Ich will nicht, dass wir Lehrer demotivieren. Während man in der Wirtschaft zunehmend den Mitarbeitern ermöglicht, von daheim aus zu arbeiten, wollen wir die Lehrer stärker kontrollieren. Zielführender wäre ein neues Besoldungsrecht: Junge sollen bei besserem Gehalt als bisher eine höhere Lehrverpflichtung von maximal ein bis zwei Stunden haben. Gegen Ende der Lebensarbeitszeit könnten die Stunden etwas reduziert werden.
Niederwieser: Niemand denkt daran, die jetzt tätigen Lehrer überfallsartig zu einer ganztägige Anwesenheit zu verpflichten. Ich finde aber, dass im Lehrberuf nicht jeder für sich arbeiten, sondern Teamarbeit gelebt werden sollte.

STANDARD: Sollen sich Direktoren neu anzustellende Lehrer aussuchen dürfen, wie es die Zukunftskommission will?
Niederwieser: Schulen sollen mehr Auswahlmöglichkeit bekommen. Aber auch die Schulpartner brauchen Mitspracherecht.
Amon: Bei der Finanz- und Personalautonomie ist sicher eine Weiterentwicklung notwendig. Es sollte im Personalbereich zumindest ein Vetorecht geben, wie es in Niederösterreich bereits existiert.

STANDARD: Was sagen Sie zum Vorschlag der Kommission, das Sitzenbleiben fast abzuschaffen, weil die Nachteile größer als die Vorteile seien?
Niederwieser: Ich unterschreibe jede Zeile, die in dem Papier dazu drinnen steht.
Amon: Kein Repetieren gibt's zum Beispiel in Finnland.
Niederwieser: Vielleicht sind die Österreicher da anders und brauchen das. Aber ich glaub's eigentlich nicht.
Amon: Wenn ich Leistungsstandards einführe, dann gibt's natürlich eine Grenze, unter die man fallen kann und ab der Repetieren Sinn macht. Wobei sich die berechtigte Frage stellt, ob man 14 Fächer wiederholen muss, wenn man in zwei davon negativ ist. Vielleicht wäre es besser, den Betroffenen aufsteigen zu lassen, wobei er aber die Leistung bis zum nächsten Halbjahr nachholen muss. Das könnte man im Schulversuch erproben.
Niederwieser: Wir wissen jedenfalls aus der Forschung, dass für 50 Prozent der Schüler das Jahr der Wiederholung das Jahr des Ausstiegs ist.
STANDARD: Gerüchteweise lassen manche Lehrer selbst schwächste Schüler aufsteigen, um mühsamen Gefechten mit Eltern auszuweichen.


Amon: Ich höre noch Schlimmeres. Zum Beispiel gibt es Wiener AHS-Direktoren, die an Volksschulen damit werben, dass man bei ihnen die Unterstufe ohne gröbere Verzögerungen absolvieren kann.
Niederwieser: Find' ich super.
Amon: Es geht nicht darum, jedem, der die Volksschule absolviert, schon das "kleine Doktorat" mitzugeben.
Niederwieser: Privilegierte Eltern haben das schon jetzt so gemacht - und ihre Kinder auf jeden Fall in die AHS gegeben. Mich stört das nicht, wobei ich natürlich nicht den Eindruck erwecken will, als hätte Schule nichts mit Leistung zu tun.
STANDARD: Wie stehen Sie zum Kurssystem in der AHS-Oberstufe?
Niederwieser: Ab 14 sollte man sich verstärkt seinen Begabungen widmen können: Das heißt, in manchen Fächern würde man nur mehr Basiswissen lernen, während man die Stärken vertiefen könnte.

Amon: Prinzipiell bin ich bei einer reinen Wahlmöglichkeit skeptisch, weil das den Weg des geringsten Widerstandes bedeuten könnte. Schulen, die Blockunterricht machen wollen, können das jetzt schon tun, und auch gegen zusätzliche Angebote spricht nichts. Einen Fächerkanon wird man aber weiterhin brauchen. Niederwieser: Man sollte sich den Fächerkanon ohnehin mal anschauen, ob er noch zeitgemäß ist. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18.11.2003)