Zürich/Frankfurt/Berlin/Madrid - Die jüngste Serie von Selbstmordanschlägen zu Beginn des Fastenmonats Ramadan in der irakischen Hauptstadt Bagdad ist am Dienstag Gegenstand zahlreicher europäischer Pressekommentare:

"Libération":

"Vietnam! Dieses Wort, das die schlimmsten amerikanischen Albträume wieder aufkommen lässt, wird inzwischen in Washington laut und deutlich ausgesprochen. Und zwar nicht nur von denen, die in den Straßen der US-Hauptstadt gegen den Krieg im Irak demonstrieren. Dass Vietnam in den Sinn kommt, liegt zunächst einmal daran, dass sich die US-Armee im Morast des Tigris-Ufers festzufahren scheint - so wie es damals im Mekong-Delta war. Eine immer besser organisierte Guerilla setzt ihr im Irak zu, wie die terroristische Ramadan-Offensive zeigt. Es liegt allerdings auch daran, dass George W. Bush weiterhin hartnäckig vorgibt, es gehe alles in die richtige Richtung, wenn auch noch nicht in aller Perfektion. Er ist damit genauso blind oder aber verlogen wie seine Vorgänger zur Zeit des Vietnam-Krieges, die immer 'Licht am Ende des Tunnels' sahen. Bush attackiert nun die Medien und wirft ihnen vor, ein zu schwarzes Bild zu zeichnen. Noch wird 'Apocalypse now' in Bagdad nicht gespielt. Aber morgen?"

"Frankfurter Allgemeine Zeitung":

"Mit Widerstand gegen die amerikanischen Besatzungstruppen sind die jüngsten Anschläge gegen das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und andere Hilfsorganisationen im Irak nicht mehr zu beschreiben, geschweige denn zu erklären. Hass auf alles Westliche (und Christliche) ist vielmehr der Hintergrund dieser Anschläge (...) Es ist ein Skandal, dass sich nach den jüngsten Anschlägen von Bagdad kein muslimischer Politiker, gar einmal ein hoher Schriftgelehrter von diesem hasserfüllten Treiben, das von gänzlicher moralischer Zerrüttung und Verblendung zeugt, distanziert und es verurteilt. Der Islam ist groß darin, sich beständig als Opfer darzustellen. Bisweilen hat er sogar recht. Doch wo er selbst zum Täter wird, schweigen seine Repräsentanten beharrlich."

"Handelsblatt" :

"Mit der jüngsten Anschlagsserie in Bagdad wurde den Amerikanern wieder einmal das eigene Drehbuch verhagelt. Wie geht es jetzt weiter? Ein Kurswechsel des Weißen Hauses ist unwahrscheinlich. Bushs erste Reaktion, dass die neueste Attentatswelle 'die Verzweiflung' der Terroristen über die Fortschritte im Irak zeige, spricht Bände über die Ratlosigkeit des Präsidenten. Der Politik der Administration fehlt es an Kraft, Klarheit und Vision (...) Stattdessen findet jede Menge Aktionismus, Eifersüchteleien und interne Rangkämpfe innerhalb der Regierung statt."

"El Mundo":

"Niemand ist sicher in Bagdad. Das demonstrierte der irakische Widerstand mit seinem Angriff auf das Hotel, in dem der stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz untergebracht war. Mit der Attacke landeten die Gegner der Besatzungsmächte einen echten Show-Effekt. Allen Truppenverstärkungen der Amerikaner im Irak zum Trotz wird der Widerstand immer stärker. Wie schon auf der Geberkonferenz in Madrid gesagt wurde, wird es im Irak ohne Sicherheit keine Investitionen geben. Hier liegt die größte Herausforderung für die Amerikaner, die derzeit ein bedauernswertes Bild der Impotenz abgeben..."

"FTD - Financial Times Deutschland":

"Vier Monate nach dem erklärten Ende der Kampfhandlungen im Irak belegen die jüngsten Anschläge, wie wenig die Amerikaner in der Lage sind, die Sicherheit zu garantieren. Die perfide Strategie der Terroristen, mit Selbstmordattacken auch gegen solche Organisationen vorzugehen, die für den Krieg gar keine Verantwortung tragen, geht auf: Die Menschen leben in Angst, in der Folge stockt der Wiederaufbau, die Amerikaner geraten in die Defensive, und eine wirksame Strategie gegen den Terror haben sie nicht. (...) Ein hastiger Abzug wäre mehr als nur ein peinlicher Gesichtsverlust für die Supermacht USA. Er wäre ein strategischer Rückschlag für alle, die ein Interesse an einem erfolgreichen neuen Irak haben."

"The New York Times":

"Obwohl nur eine kleine Minderheit der Iraker und ausländische Extremisten hinter den meisten dieser Vorfälle zu stehen scheinen, sind deren Auswirkungen verheerend. Daher ist es auch nicht plausibel, wenn sich Präsident Bush - wie am Montag geschehen - hinstellt und argumentiert, die jüngsten Angriffe seien lediglich ein Beweis für die 'wachsende Verzweiflung' der Terroristen über die Fortschritte der Amerikaner, die Lage im Irak zu stabilisieren. (...) Das Weiße Haus kann schon von Stabilitätserfolgen in anderen Irak-Bezirken berichten, allerdings kann es nicht die sich fortsetzende Gewalt in Bagdad beschönigen. Noch mehr Tage wie dieser Montag und ihr Einsatz könnte wesentlich länger dauern und schwieriger werden, als es die meisten Amerikaner im Moment erwarten."

"Süddeutsche Zeitung":

"In Bagdad, so viel ist klar, herrscht wieder Krieg. Eine Bilanz freilich ist verfrüht, diese Tragödie hat ihre Klimax wohl längst noch nicht erreicht. Die Ramadan-Offensive - eingeleitet mit dem Raketenangriff auf Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz im Bagdader Rashid-Hotel und in perfider Choreographie fortgeführt mit einer Serie von Bombenanschlägen - wirft allerdings ein Schlaglicht auf Kräfteverhältnisse, Taktik und Motive der Krieger auf irakischer Seite. Das Phantom bekommt Konturen. Die erste Erkenntnis: Der Feind ist stärker, als es sich die amerikanischen Besatzer bislang eingestehen wollten. Die Streitkräfte der Supermacht, immerhin mehr als 150.000 US-Soldaten, die zu einem gewichtigen Teil konzentriert sind auf die Hauptstadt und das umliegende 'sunnitische Dreieck', werden vorgeführt als schwerfälliger und anfälliger Koloss. Die zweite Erkenntnis: Der Krieg kennt keine Fronten mehr. Er gilt nicht nur den amerikanischen Besatzungstruppen, sondern allen, die sich am Aufbau des Irak beteiligen wollen. (...) Doch es geht im Irak um noch mehr als ums amerikanische Selbstverständnis und Washingtons Rolle in der Welt. Es geht zunächst um das Schicksal von 24 Millionen Irakern."

"Frankfurter Rundschau":

"Die Anschläge auf das Rote Kreuz und mehrere Polizeistationen in der irakischen Hauptstadt deuten auf eine Intensivierung des bewaffneten Widerstands hin. Die Attacken in Tikrit und auf das Rashid-Hotel belegen offenbar, dass die Urheber aller sicherheitsbedingten Geheimhaltung zum Trotz genau darüber informiert waren, wo sich Paul Wolfowitz aufhielt. Sie dringen in Hochsicherheitsanlagen vor. Und sie sehen Hilfsorganisationen als Besatzungsgehilfen an. Das ist noch nicht die Tet-Offensive des Vietnam-Kriegs, die losbrach, als die Washingtoner Abgesandten, Berater und Soldaten den Krieg für gewonnen hielten. (...) US-Zeitungen stellen dennoch die Frage, ob 'wir schon wieder in Vietnam sind'. Nicht wegen der Kriegslage, sondern wegen der Systematik, mit der die US-Öffentlichkeit getäuscht wird und die Staatsführung sich als selektiv informiert erweist. (...) Schon Richard Nixon wollte nicht lesen, nichts sehen und nichts lernen." (APA/dpa)