Wie es den Unterschied zwischen einem gutem Gehör und einem absoluten Gehör gibt, so scheint es auch einen qualitativen Sprung zwischen einer guten intellektuellen Abwehrlage und einer absoluten intellektuellen Immunität zu geben. Olga Flor kann durch schwer verseuchtes Gebiet - zum Beispiel Wagneropern - gehen, ohne von den herumschwirrenden Viren des Klugredens im leisesten angesteckt zu werden: "Die Rheintöchter entflossen wieder und wieder den Händen des Zwerges, der es nicht verstand, sie zu fangen. Der keine Ruhe fand zwischen den fischigen Häuten. Der Ton lastet schwer, sagte er. Jahrzehnteschwer, die Wörter flüchtig, lösen sich, wie das Sichtbare, sagte er. Davon sehen wir ab, sagte er. Die Form interessiert. Ist Geschichte. Bleibt."
Die Sätze spricht Titus, die männliche Hauptfigur in Erlkönig. Roman in 64 Bildern. Wie in Thomas Manns Buddenbrooks und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften steht die bürgerliche Anreicherungs- und Erbengemeinschaft noch einmal in ihrer ganzen Verzwickt- und Verzweigtheit am Programm, als gäbe es dazu bisher keine Beiträge. Das ein Phänomen. Das macht süchtig. Verschüchtert fragt die Leserin, wie ist das möglich? Neu sind die Chronicles, die Schilderung der Jugendlichen zur Jahrtausendwende, die außerhalb ihrer Familie(n), einer Szene oder mehreren Szenen angehören, die mit dem bürgerlichen Milieu nichts mehr zu tun haben.
Die Hauptfiguren sind Cousin und Cousine, Titus und Elisabeth. Ihre Entwicklung wird über einen Zeitraum von zehn Jahren geschildert. Karl-Adolf Maier-Meienstein, der Vater respektive Onkel der beiden, ist der uneheliche Sohn einer Industrie-Dynastie und amtierender Geschäftsführer. Sein Name, zu dem den gelernten ÖsterreicherInnen wohl gleich klangähnliche Namen aus dem Wirtschaftsleben einfallen, und seine Person stehen im Roman für die unbestreitbare Tatsache, dass das Bürgerliche in "Führungspositionen" noch lange nicht von Bühne abgetreten ist.
Das Inzestuöse, verpönt und doch zugleich der Kern der Sache, führt Elisabeth und Titus in die "Engführung". Erlkönig, der Titel, verweist auf das Irrationale, dem die Nüchternheit, erliegt. Das Bürgerliche scheitert an der Bodenfrage und auch diese Geschichte - soviel sei verraten - geht nicht gut aus.