Nicht jeder Debütantin ist es vergönnt, bei ihrem Erstauftritt lobende Worte von Günther Grass einzuheimsen. Olga Flor hat voriges Jahr Textausschnitte aus ihrem Romanprojekt Erlkönig nach Berlin geschickt. Prompt wurde sie eingeladen bei den Werkstattlesungen zur Verleihung des Alfred-Döblin-Preises - der an den Österreicher Josef Winkler ging - zu lesen. Dort wurde sie mit Lob nicht nur vom Pfeifenraucher sondern auch von der dortigen Presse aufgebaut. "Die Entdeckung der diesjährigen Werkstatt" Bis dahin hatte die Absolventin eines Physikstudiums, Online-Redakteurin und -Designerin und Mutter zweier Kinder noch nicht viel publiziert.

Wie es den Unterschied zwischen einem gutem Gehör und einem absoluten Gehör gibt, so scheint es auch einen qualitativen Sprung zwischen einer guten intellektuellen Abwehrlage und einer absoluten intellektuellen Immunität zu geben. Olga Flor kann durch schwer verseuchtes Gebiet - zum Beispiel Wagneropern - gehen, ohne von den herumschwirrenden Viren des Klugredens im leisesten angesteckt zu werden: "Die Rheintöchter entflossen wieder und wieder den Händen des Zwerges, der es nicht verstand, sie zu fangen. Der keine Ruhe fand zwischen den fischigen Häuten. Der Ton lastet schwer, sagte er. Jahrzehnteschwer, die Wörter flüchtig, lösen sich, wie das Sichtbare, sagte er. Davon sehen wir ab, sagte er. Die Form interessiert. Ist Geschichte. Bleibt."

Die Sätze spricht Titus, die männliche Hauptfigur in Erlkönig. Roman in 64 Bildern. Wie in Thomas Manns Buddenbrooks und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften steht die bürgerliche Anreicherungs- und Erbengemeinschaft noch einmal in ihrer ganzen Verzwickt- und Verzweigtheit am Programm, als gäbe es dazu bisher keine Beiträge. Das ein Phänomen. Das macht süchtig. Verschüchtert fragt die Leserin, wie ist das möglich? Neu sind die Chronicles, die Schilderung der Jugendlichen zur Jahrtausendwende, die außerhalb ihrer Familie(n), einer Szene oder mehreren Szenen angehören, die mit dem bürgerlichen Milieu nichts mehr zu tun haben.

Die Hauptfiguren sind Cousin und Cousine, Titus und Elisabeth. Ihre Entwicklung wird über einen Zeitraum von zehn Jahren geschildert. Karl-Adolf Maier-Meienstein, der Vater respektive Onkel der beiden, ist der uneheliche Sohn einer Industrie-Dynastie und amtierender Geschäftsführer. Sein Name, zu dem den gelernten ÖsterreicherInnen wohl gleich klangähnliche Namen aus dem Wirtschaftsleben einfallen, und seine Person stehen im Roman für die unbestreitbare Tatsache, dass das Bürgerliche in "Führungspositionen" noch lange nicht von Bühne abgetreten ist.

Das Inzestuöse, verpönt und doch zugleich der Kern der Sache, führt Elisabeth und Titus in die "Engführung". Erlkönig, der Titel, verweist auf das Irrationale, dem die Nüchternheit, erliegt. Das Bürgerliche scheitert an der Bodenfrage und auch diese Geschichte - soviel sei verraten - geht nicht gut aus.

Jedoch zurück zur Frage: Wie ist das möglich? Nach einmal den Generationenschinken herunterzuschneiden als wäre es das erste mal? Die Antwort scheint mir erstens in dem obigen Zitat über den Sieg der Form über die Worte und zweitens in der Figur Elisabeths zu liegen. Mit ihr betritt eine neue Frauenfigur die Literatur. Sie ist praktisch, fleißig, eine, der es darum geht, die Spielregeln zu erfassen und zu ihrem Vorteil anzuwenden und sie, weit davon entfernt, nicht gebildet zu sein, misst dem, was die Menschen um sie herum denken und sagen, keine Bedeutung bei. Nichts kann sie ablenken, das Sein der Menschen, mit denen sie es zu tun hat, in seiner ganzen Schönheit und Erbärmlichkeit zu erkennen. Und so agiert auch die Autorin. Beim Lesen atmet das Publikum frische Luft. (DER STANDARD, Printausgabe, 11./12.5.2002)