Der Anfang ist so bizarr wie die Tatsache, dass Millionen Menschen weltweit daran tatsächlich glauben: Im Jahr 1823 erscheint dem glücklosen Wahrsager und Schatzsucher Joseph Smith aus dem US-amerikanischen Vermont nämlich ein Engel namens Moroni. Dieser verkündigt ihm, wo er eine auf Goldplatten geprägte heilige Schrift finden kann, die die Menschheit zum wahren christlichen Glauben zurückführen soll, das "Buch Mormon". Die Tafeln sollten zwar nach ihrer Ausgrabung bald wieder spurlos verschwinden. Mit Hilfe eines "Zaubersteins" und einer "göttlichen Brille" konnte Smith aber der Menschheit dankenswerterweise zwischen 1828 und 1829 diese Schrift aus dem "reformierten Ägyptisch" ins Englische herüberretten. Er vergrub dazu sein Gesicht in einem Hut und schöpfte aus seiner Erinnerung.

Nach Diktat verreist: Da Gründervater Smith und seine erstaunlich rasant wachsende Anhängerschaft bald darum bemüht war, einen US-Gesetze negierenden, diktatorisch geführten Gottesstaat zu errichten, kam es vor allem auch wegen der Weigerung der Mormonen, Steuern zu zahlen, bald zu Mord, Totschlag und dem Zug der Mormonen Richtung Gelobtes Land Utah und den drei heutigen Hauptstädten des Glaubens, Salt Lake City, Colorado City und Provo. Smith selbst wurde 1844 übrigens von aufgebrachten "Ungläubigen" gelyncht, weil er zusätzlich zum heiligen Buch auch jedem Mormonen zugängliche und in seinem Fall 133 göttliche Offenbarungen empfangen hatte - wobei er sich selbst den Strick mit der berüchtigten 132. drehen sollte. Diese forderte die wahren Gläubigen zur Vielehe auf. Sie drohte jedem Verweigerer mit dem Höllenschlund.

Obwohl das Mormonentum aus dieser Zeit also nicht nur mit abstrusem Startkapital und jederzeit möglichen Offenbarungen der einzelnen Gläubigen geschlagen ist und ein schweres sexistisches Erbe trägt, das in abgelegenen Gebieten der USA heute noch zu vom Glauben her sanktionierten ehelichen Vergewaltigungen, zur Kinderschändung von oft erst 14-jährigen Mädchen und zu Inzucht führt, befindet sich der mormonische Glaube mittlerweile mit weltweit über elf Millionen Anhängern dank intensiver Missionierungsarbeit vor allem auch in Lateinamerika auf dem Weg zur Weltreligion. Im Gegensatz zu den nach wie vor weitgehend unbeschadet die gültigen Gesetze ablehnenden Polygamisten in den Einöden von Utah agiert die Hauptkirche der Mormonen von Salt Lake City aus allerdings längst moderater, liberaler und US-gesetzeskonform. Sie bemüht sich mitunter auch redlich ihren Rassismus zumindest zu kaschieren. Immerhin werden seit 20 Jahren auch Schwarze zu Priestern geweiht; "Neger", die vorher in den göttlichen Offenbarungen der guten alten Gründerzeit nur als "Tiere mit Geist" angesehen wurden.

Wer nach seinem Welterfolg In eisigen Höhen, dem Mount-Everest-Buch, das vor einigen Jahren eine Renaissance der Bergliteratur auslöste, jetzt Jon Krakauers neue Reportage liest, wird gleich zu Beginn von einem gewagten Vergleich verstört. Immerhin ortet Krakauer bei religiösem Fanatismus und Fundamentalismus die selben Wurzeln wie etwa beim Extrembergsteigen. Das liest sich in Zusammenhang mit dem 11. September und einem "mit ungetrübter Leidenschaft und großer Konzentration auf ein Lebensziel ausgerichteten" Fanatismus etwas befremdlich. Allerdings verweigert Krakauer dann dankenswerterweise jede weitere Analyse und konzentriert sich in einer beeindruckenden Recherchearbeit zwischen Quellenstudium und unzähligen Interviews darauf, die zwei Handlungsstränge seiner Reportage zu bündeln. Zum einen erzählt Krakauer hier so emotionslos, wie es bei diesem Thema möglich, ist die Geschichte des Mormonentums unter besonderer Berücksichtigung der heute noch großen Zulauf habenden Fundamentalisten und Polygamisten. Zum anderen zeigt er am Fallbeispiel eines aus religiösem Wahn begangenen, "von Gott befohlenen" Ritualmordes 1984 in Utah eine konkrete, in diesem Fall leider sehr drastische Auswirkung dieses Eiferertums auf.

Die beiden Brüder Ron und Dan Lafferty ermordeten damals in der Kleinstadt American Fork ihre Schwägerin Brenda und ihre kleine Nichte Erica. Brenda wollte als einzige streitbare Frau im Familienclan der Laffertys nicht akzeptieren, dass sich die Männer innerhalb kürzester Zeit von gemäßigten Mormonen zu radikalen Fundamentalisten wandelten. Sie forderten die Polygamie ein, gaben ihr bürgerliches Leben auf, um Missionare und dank göttlicher Eingebungen auch Propheten im eigenen Land zu werden. Eine Frau lehnte sich dagegen auf. Undenkbar im göttlichen männlichen Prinzip. Die im Mormonentum ursprünglich erlaubte Blutsühne war die Folge. Die Offenbarung des Ron Lafferty: "Es ist Mein Wille und Gebot, dass du die folgenden Menschen beseitigst, auf dass Mein Werk fürdergehe . . . Zuerst deines Bruders Weib Brenda und ihr Baby . . .".

Mord im Auftrag Gottes: Die Ursachen dieses Wahns, dieses unbeschreiblichen religiösen Furors, der eine ganze Familie zerstören sollte, führt Krakauer ins Herz dieses Glaubens. Zurück zu den Anfängen bei Joseph Smith. Dort wo viel göttliches Licht strahlt, ist auch mächtig viel Schatten. Zumindest die Blutsühne allerdings ist der breiten Bevölkerung in den USA nicht völlig fremd. 2004 soll Ron Lafferty nach 20 Jahren Haft in der Todeszelle als Haupttäter hingerichtet werden. Krakauer hat ihn hier noch ein letztes erschreckendes Mal interviewt. []

Jon Krakauer, Mord im Auftrag Gottes. Eine Reportage über religiösen Fundamentalismus. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. €22,90,-/448 Seiten.
Piper, München 2003.