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Bild: apa/dpa/Ingo Wagner

Jetzt ist schon wieder etwas passiert. Gerade noch hatte sie so ein einträgliches Geschäft, die Musikindustrie. Verdiente immer wieder immer mehr Geld damit, dass sie alte Hadern auf immer neue, andere Scheiben presste. Schellacks wurden durch Langspielplatten und Singles ersetzt, LP und Singles von der CD überflüssig gemacht. Und jedes Mal war der neue, bessere Tonträger auch ein teurerer Tonträger, und wir zahlten und zahlten und zahlten.

Branche vor dem Ruin?

Eigentlich sollten wir jetzt, weil 21. Jahrhundert, schon längst für die nächste Erneuerungsrunde noch tiefer in die Tasche greifen, sollten Super-CDs und Audio-DVDs kaufen, und alles wäre in Ordnung. Aber peng: Da kommt ein kleiner Collegestudent, borgt sich von seinem Onkel ein Handbuch, schlägt sich ein paar Nächte als Amateurprogrammierer um die Ohren und die Katastrophe ist perfekt. Seither wird downgeloaded, was die Leitungen hergeben, und glaubt man den Klagen der Musikindustrie, steht eine ganze Branche vor dem Ruin.

Von der 12-jährigen Vorzugsschülerin bis zur 80-jährigen Oma

Geklagt wird, was das Zeug hält: Erst Napster, dem das Handwerk gelegt wurde, jetzt ein paar Hundert Musikpiraten, von der 12-jährigen Vorzugsschülerin bis zur 80-jährigen Oma. Nicht nur in den USA, wo die Klageindustrie längst ein einträglicheres Geschäft als die Musikindustrie geworden ist (Der Webstandard berichtete), nein: Auch in deutschen Landen sollen noch heuer die ersten Freibeuter der Weltnetze zu Rechenschaft gezogen werden. "60-jährige brennen CDs zu Hause, und Hausfrauen, die kochen sollten, brennen!" entsetzt sich der Vorsitzende des deutschen Bundesverbandes der phonographischen Wirtschaft, Gerd Gebhardt, über den rapiden Verfall der Sitten.

Bisher keine abschreckende Wirkung

Die erhoffte abschreckende Wirkung, sagt die Marktforschung, ist bisher jedoch nicht eingetreten: Die Tauschbörsen wie KaZaa, die das Erbe von Napster angetreten haben, verzeichnen ungebrochenen Zustrom (Der Webstandard berichtete). 60 Millionen Amerikaner sollen der illegalen Freibeuterei frönen, 51 Millionen Europäer, und in China sind ohnehin neun von zehn CDs Raubkopien.

Amerika, wach auf!!

Seit Eltern als Inhaber von Internetanschlüssen stellvertretend für ihre Kinder geklagt wurden (bei Strafdrohungen, die in die hunderttausende Dollar gehen), hat, wie man in jüngster Zeit nachlesen kann, in den USA ein neues heikles Thema die sexuellen Aufklärungsgespräche und Warnung vor Drogen abgelöst(Der Webstandard berichtete). "Eltern sind immer für die Handlungen ihrer Kinder verantwortlich", moralisiert "peppergarden84" in einem Online-Diskussionsforum. "Amerika, wach auf!! Bringt euren Kindern bei, was richtig und gut ist, und liebt sie, dann werden sie verantwortungsbewusste Bürger werden."

Die Klagetaktik der Industrie könnte durch diesen Druck aufgehen: So verglich sich die Mutter einer 12-jährigen um 2000 Dollar und einer zerknirschten Erklärung: "Wir begreifen jetzt, dass File Sharing der Musik ungesetzlich war. Sie können versichert sein, dass es unsere Brianna nicht mehr tun wird."

"Disruptive Technologien"

Aber auch wenn Brianna es nicht mehr tun wird: Das Problem eines gestörten Geschäftsmodells wird für die Musikindustrie weder durch Klagen noch durch zum Scheitern verurteilte Kopierschutztechnologien verschwinden. Denn so sehr die Branche stets durch neue Erfindungen zu fetten Erträgen kam, ihre Geschichte ist nicht erst seit Napster, sondern seit der Erfindung der Tonaufzeichnung durch Thomas Alva Edison 1877 von "disruptiven Technologien" – Entwicklungen, die bisherige ökonomische Erfolgsmodelle auf den Kopf stellen – gekennzeichnet.

Die Abschaffung des Musikers

Eigentlich ist die Geburtsstunde der heutigen Plattenindustrie die technische Abschaffung des Musikers: Wer im 19. Jahrhundert Johann Strauß hören wollte, musste zu seinen Konzerten gehen und konnte nicht einfach eine CD des Neujahrskonzerts kaufen. Die Macht lag bei Musikverlagen, gedruckte Noten waren das (begrenzte) Mittel der Vervielfältigung, der Musiker war unentbehrlich – bis Edison den Phonograph erfand und sich Macht und Geld von den Verlagen langsam zu einer technologisch orientierten Industrie verschob.

Musik aus der Konserve

Als in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Livemusik im Radio (deren letzten darbenden Überreste die Radio-Symphonieorchester sind) zunehmend durch billigere Musik aus der Konserve ersetzt wurde, boykottierten Musiker die Aufnahmestudios, die sie um ihr Brot brachten – bis ihnen Tantiemen für Plattenverkauf und Ausstrahlung rechtlich zugesichert wurden; ein System, das sich bis zum heutigen Tag erhalten hat.

Mit der Musikkassette hat es begonnen

Mit Schellacks und Platten hatte die Musikindustrie für lange Zeit eine Technologie gefunden, mit der sie sich ein relatives Monopol sicher konnten. Die Lebenszyklen von Produkten waren länger, der technologische Wandel noch langsamer als in den vergangene Jahren. Das Tonband war zu teuer und aufwändig, um diese Erträge durch selbst gemachte Kopien zu gefährden. Erst die 1963 von Philips erfundene Musikkassette war der Anfang vom Ende des Monopols der Musikerzeugung durch kapitalintensive Unternehmen. Für eine wirkliche Gefahr taugte die Technik jedoch nicht: Der zeitliche Aufwand für Aufnahmen war groß, die analoge Technik brachte Qualitätsverschlechterungen beim Kopieren. Aber immerhin wurde das Phänomen mit der Erfindung des Walkman groß genug, dass die Industrie Abgaben auf unbespielten Kassetten durchsetzen konnte – Beginn einer neuen Einnahmeform, die später im digitalen Zeitalter auf alle Arten von Speichermedien ausgeweitet wurden.

Silberscheiben namens Compact Disc

Die digitale Ära brach 1982 mit den kleinen Silberscheiben namens Compact Disc aus, einer gemeinsamen Erfindung von Philips und Sony, die ironischerweise selbst Musikfirmen besitzen. Es sollte ein goldenes Zeitalter werden: Die Produktion erzwang enorme Investitionen, die nur die finanzstärksten Unternehmen leisten konnten; Künstler und kleine Musikfirmen beschworen den Untergang unabhängiger Labels, die dabei nicht mitziehen konnten – dass selbst "Hausfrauen statt zu kochen CDs brennen" würden, war unvorstellbar.

MP3

Welch ein Irrtum. Denn aus der Geschichte jeder technologischen Entwicklung ist klar, dass die nächste, bessere und billigere Technologie nur um die Ecke auf ihre Erfindung wartet. Statt rechtzeitig von Schreibmaschinen-und Kopiergeräteherstellern wie der einst mächtigen, später beinahe zu Grunde gegangenen Xerox, oder dem inzwischen von uns geschiedenen Erfinder der Instant-Fotografie Polaroid zu lernen, taumelte die Musikindustrie von einem Wachstumsrekord zum nächsten. Dabei kündigte sich der jetzige Katzenjammer schon länger an. Bereits 1987 begann die deutsche Forschungsschmiede Fraunhofer-Institut – mit EU-Geldern – die Entwicklung eines Verfahrens, um Musikdateien derart zu schrumpfen, dass sie über schmalbandige Telefonleitungen befördert werden können. 1989 entstand daraus der MP3-Standard, zeitgleich übrigens mit der Entwicklung des World Wide Web durch den britischen Computerwissenschafter Tim Berners-Lee am Nuklearforschungslabor CERN in Genf.

"Peer-to-Peer"

Wie so oft fielen europäische Entwicklungen in den USA auf fruchtbaren Boden: Der Durchbruch für Internet kam Mitte der 90er Jahre, 1997 begann der erste Mainstream-MP3-Player zu zirkulieren, 1998 schwoll die MP3-Welle ein an, daneben kamen Geräte auf den Markt, die MP3 wie auf einem Walkman abspielen oder auf CD brennen konnten. Anfang 1999 wurde dann Shawn Fannings Entwicklung eines "Peer-to-Peer"-Netzwerks (das individuelle Computer und ihre Musiksammlungen miteinander verbindet, statt Songs auf zentralen Servern zu lagern) namens Napster schneller zum Hit, als je ein Song die Hitparade erklomm.

Feuer am Dach

Jetzt war Feuer am Dach – aber die Industrie hatte noch immer nicht verstanden, dass sie mit der neuen Technologie statt gegen sie ziehen musste. Trotz hereinbrechender Wirtschaftskrise hielten sie an ihrer Hochpreispolitik fest, während die CD-Verkäufe längst einbrachen. Aus dem Schlammassel wird nicht leicht herauszukommen sein: Bezahlte Musikdienste gibt es erst wenige, weil die Industrie sich weiterhin zurückhält.

Die Filmindustrie zittert

Eine benachbarte Branche, über gemeinsame Konzerneigentümer mit der Musikindustrie verflochten, beobachtet mit wachsender Unruhe, wie sich der technologische Fortschritt an sie heranpirscht: die Filmindustrie. Noch lebt sie gut von dem relativ jungen Geschäft mit DVD, das erst jetzt so richtig in Schwung kommt; und noch schützt sie die höhere technische Hürde. Aber im Untergrund kündigt sich auch hier das Beben an: Zum ersten Mal werden für die kommenden Oscars den Juroren der Academy Awards keine Videokassetten der möglichen Preisträger zur Verfügung gestellt – um Raubkopien zu verhindern(Der Webstandard berichtete). (Der Standard Printausgabe, 18/19.10.03, Helmut Spudich)