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"Leute, wollt ihr eine Republik", soll nach dem Krieg ein Kommissar die Menge gefragt haben. "Ja, Genosse", schrie diese enthusiastisch zurück. "Wollt ihr sie wirklich?" - "Ja!" Da hob ein alter Mann in der letzten Reihe die Hand und fragte: "Ich bin auch ganz für die Republik, Genosse, aber, könnten Sie mir sagen: Wie essen wir die?"

Ich erinnerte mich an diese Nachkriegsanekdote, während ich versuchte, die fast unbeantwortbare Frage nach der "europäischen öffentlichen Meinung" zu beantworten. "Ja!", riefen wir - auf ganz ähnliche Weise wie nach dem Krieg - auch während des vergangenen Jahrzehnts, "ja, wir wollen die Europäische Union, wir wollen, dass Europa zu uns zurückkommt." Dann, als wir mit gezielteren Fragen konfrontiert wurden, gaben wir ungläubig zurück: "Was? Es soll erlaubt werden, Landbesitz an Ausländer zu verkaufen? Oh nein!"

Wie "schluckt" man also Europa? Indem man sich als Slowene fühlt und wie ein Europäer schreit? Indem man sich die ganze Zeit über auf der Grenzlinie zwischen "uns" und "ihnen" bewegt? Wohl kaum.

Als junger Mann studierte ich am Antioch College in Yellow Springs, in der Nähe von Dayton in Ohio. Während der Flower-Power-Zeit und der Proteste gegen den Vietnamkrieg in dieser kleinen Quaker-Stadt im amerikanischen Mittelwesten zu leben war schon für sich genommen ein Ereignis. Aber in der Gemeinde von Yellow Springs war das ein einzigartiges Erlebnis. Es wurde mir erst nachträglich bewusst. Die Menschen waren dort nicht bloß das Resultat des Schmelztiegels Amerika, sondern auch des Lebens in einer der wenigen verbliebenen, wenn nicht vielleicht der einzigen, utopischen "owenistischen" Kolonien aus dem 19. Jahrhundert. Offene Haustüren überall, starkes und brüderliches Zusammengehörigkeitsgefühl, gegenseitige Unterstützung, Austausch von Geschenken bei lokalen und nationalen Feiern . . .

Mein Aufenthalt in dieser Kleinstadt und der bis heute aufrechte Kontakt mit einigen ihrer Bewohner gab mir eine das ganze Leben anhaltende Dosis an Optimismus und den Glauben an die Möglichkeit eines vielfarbigen Regenbogens der Kulturen, Lebensstile, Handlungsweisen, Geschmäcker und Interessen.

Meine amerikanische Erfahrung brachte mich zur Ansicht, dass zwar eine europäische Identität eine mögliche, wenn auch weit entfernte Utopie ist, ein "europäischer Regenbogen" verschiedener (nationaler) Identitäten aber eine realistische Möglichkeit.

Vor ein paar Tagen, an einem schönen Oktobermorgen, saß ich in Koper/Capodistria an der slowenischen Küste mit Journalisten aus Slowenien, Kroatien und aus Triest zusammen. Wir besprachen die jüngsten Streitigkeiten zwischen Slowenien und Kroatien, insbesondere Kroatiens Absicht, in der Adria eine exklusive Fischereizone zu erklären.

Angstmacherei

Wir versuchten einander zu überzeugen, dass wir nicht Teil jener politischen Pathologie sind, die in solchen konfliktgeladenen bilateralen Beziehungen sichtbar wird. Wir betonten erneut, dass wir als Journalisten nicht den nationalistischen Ausbrüchen auf beiden Seiten dienen und dass wir sie nicht mit dem nationalen Interesse verwechseln sollten. Im nationalen Interesse beider Nationen ist es nämlich, sich auf europäische Weise zu verhalten, und das betrifft Kroaten ebenso wie Slowenen. Wir betonten auch, dass wir uns nicht durch Angstmacherei manipulieren lassen, dass wir als professionelle Journalisten und nicht als Slowenen, Kroaten oder Italiener agieren sollten. Wunschdenken? Nein, wenn wir wirklich versuchen, Vorurteile zu überwinden - in unseren Artikeln und Reportagen, in der Blattlinie - und unsere Zeitungen zu europäischen Foren zu machen, die die realen Probleme der Menschen in verschiedenen Teilen der EU aufzeigen.

Um ein derartiges europäisches Milieu zu schaffen, eine europäische öffentliche Meinung, ein europäisches Bewusstsein, brauchen wir natürlich zu allererst - Europäer. Vorläufig herrschen in der Wahrnehmung des Nationalcharakters der europäischen Familienmitglieder ja noch Stereotype vor. Wir sehen noch immer gütige, sture, moralistische Niederländer; theatralische, verantwortungslose, laute Italiener; phlegmatische Briten; disziplinierte und effiziente Deutsche; eigennützige, nationalistische Franzosen; arrogante Kroaten mit Minderheitskomplex; fremdenfeindliche Slowenen ...

Die Intensität dieser Stereotype hat sich geändert und man muss zugeben, dass z.B. im Fall der Franzosen und Deutschen, die einander in tödlichen Kriegen bekämpft hatten, beide Seiten diese alten Klischees losgeworden sind und nun in relativ harmonischer Nachbarschaft leben. Britische Fußballfans haben dazu beigetragen, das Bild von den Engländern zu verändern. Und auch Slowenen und Österreicher haben sich stark bemüht, alte Vorurteile zu überwinden.

Es ist ein langsamer Prozess, und oft verhalten auch wir Zeitungsmenschen uns noch immer wie Slowenen und Österreicher und nicht wie Eurojournalisten, wenn es um bilaterale Probleme geht. Daran sollten wir denken und daran sollten wir arbeiten - während wir noch immer CNN und BBC sehen. (DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.10.2003)