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Adam Michnik - führender Kopf der demokratischen Opposition in Polens kommunistischer Ära - ist heute Chef der bedeutendsten Tageszeitung des Landes, der "Gazeta Wyborcza".

Foto: APA/EPA/Janek Skarzynski
An der Schwelle zur Europäischen Union machen sich die Polinnen und Polen Gedanken über ihre Zukunft. In all den Jahren der kommunistischen Diktatur waren die EU, der Atlantik-Pakt oder ganz einfach der demokratische Westen unerreichbar scheinende Objekte der Begierde für die polnischen demokratischen Eliten. Heute sind diese Träume beinahe Wirklichkeit geworden - doch einige von uns denken nun an die klugen Worte Oscar Wildes: "In dieser Welt gibt es zwei Tragödien. Die eine ist, nicht zu bekommen, was man möchte, und die andere ist, es zu bekommen."

Wir mögen es nicht, als Protektorat oder kleiner Bruder behandelt zu werden

Nach dem Zerfall des Warschauer Paktes und dem Erlangen der Unabhängigkeit sind die Polen äußerst sensibel, was ihre Souveränität angeht. Wir haben das Gefühl, loyale Partner unserer Verbündeten sein zu wollen und auch zu können. Wir glauben, dass wir unseren Aufgaben gewachsen und zum partnerschaftlichen Dialog bereit sind. Wir mögen es hingegen gar nicht, wenn wir als Protektorat oder kleiner Bruder behandelt werden, der Anweisungen zu befolgen hat - ob aus Paris oder Berlin, ob aus Brüssel oder Washington.

Kernthemen der europäischen Debatte

Die Kernthemen der europäischen Debatte sind: Welche Gestalt soll die Europäische Union annehmen, wie weit geht die Souveränität der einzelnen Mitgliedstaaten, wie soll das euro-atlantische Bündnis aussehen? Vergessen wir nicht: Jetzt, vor unseren Augen bildet sich eine europäische öffentliche Meinung. Sie bildet sich aus dem Zusammentreffen von Ländern und Gesellschaften, die unterschiedliches Geschichtsbewusstsein haben, jeweils anders von den Zeiten gezeichnet wurden.

Beim Kosovo gespalten

Gespalten hat sich die Meinung unseres Kontinents zweifellos in der Einstellung zur Intervention im Kosovo. Damals traten erstmals Differenzen zwischen Menschen zutage, die während der langen Jahre des Kalten Krieges mit einer Stimme gesprochen hatten. Und damals sagte Joschka Fischer, dass der Aufruf "Nie wieder Krieg!" zumindest durch einen zweiten ergänzt werden sollte: "Nie wieder Auschwitz!"

Grenzen der Souveränität

Die Auseinandersetzung um die Grenzen der Souveränität geht weiter. Bedeutet nationale Souveränität, dass ein diktatorisches Regime die eigenen Bürger foltern und morden, sich ethnische Säuberungen und massenhafte Repressalien erlauben kann? Bedeutet eine Intervention gegen ein solches Regime den Bruch der Regeln einer demokratischen Zivilisation? Ähnliche Fragen stellten sich nach dem Einsatz der Antiterrorkoalition in Afghanistan, nach dem Angriff auf den Irak. In abgeschwächter Form waren sie aktuell, als in Österreich Haiders FPÖ in die Regierung kam.

Grenzen der Demokratie

Die quälende Frage des europäischen Diskurses ist jene nach den Grenzen der Demokratie. Die heftigen Reaktionen in Europas Hauptstädten und Medien auf die Nachricht, dass in Wien eine Koalition mit Haiders Partei die Macht übernommen hatte, stellten ein Thema erneut in den Mittelpunkt: die Rolle einer extremen, populistischen und ausländerfeindlichen Rechten im politischen Spektrum des demokratischen Europa. Die Reaktionen waren mit Sicherheit hysterisch und übertrieben, deutlich wurde jedoch, dass eine innere Angelegenheit Österreichs zu einer inneren Angelegenheit der gesamten EU geworden war.

Neue Differenzen

Die Ereignisse des 11. September - als Symbole des amerikanischen Staates Zielscheibe des fundamentalistischen Terrorismus wurden - sowie deren Konsequenzen in Gestalt der Antiterrorallianz, des Krieges gegen die Taliban in Afghanistan und des Krieges gegen Saddam Hussein im Irak haben die europäische Meinung unter neuen Bedingungen wieder gespalten.

Wer ist der Feind Europas

Europa war vor die Frage gestellt: Wer ist unser Feind? Überspitzt formuliert: Ist die europäische Identität bestimmt durch den Antitotalitarismus - also die Ablehnung jeglichen totalitären Regimes, egal welcher Färbung, schwarz, grün oder rot - oder durch den Antiamerikanismus? Das wird zu einer Schlüsselfrage, wenn die oft berechtigte Kritik an der Bush-Administration in einem generell feindseligen Ton gegenüber den USA als Ganzes geäußert wird. Wir müssen abwägen, ob die politische und militärische Anwesenheit der USA in Europa unserem Kontinent Schaden oder Nutzen gebracht hat. In meinen Augen brachte sie ausschließlich Nutzen.

Potenzieller Rivale der USA

Das ist aber keine gängige Haltung. Immer öfter ist zu hören, dass sich die EU nicht als Partner und Verbündeter der USA positionieren soll, sondern als potenzieller Rivale. Daraus leitet sich der Standpunkt ab, dass die antiamerikanischen Massendemonstrationen gegen den Irakkrieg ein Schlüsseldatum in der Bildung einer neuen europäischen Identität markieren. Einen Bewohner Warschaus kann das nur verwundern. Für uns in Polen ist das Schlüsseldatum der Fall des Kommunismus, der in Warschau eingeleitet wurde und den europäischen "Herbst der Völker" im Jahr 1989 ankündigte.

Zeichnung durch die Zeit

So weit die beiden Daten voneinander entfernt sind, so unterschiedlich ist die Zeichnung durch die Zeit. Diese Differenzen können ganz praktische Konsequenzen haben. Daraus folgt nämlich die Überlegung, ein Europa "zweier Geschwindigkeiten" zu schaffen und innerhalb der EU eine Lenkungsachse Paris-Berlin. Damit steht die Öffentlichkeit vor der Frage: Wollen wir tatsächlich in einer Welt leben, in der wir zwischen einem Diktat Washingtons und einem Diktat der Achse Berlin- Paris zu wählen haben? Mir persönlich gefällt diese Perspektive gar nicht.

Jüdisch-christliche Tradition in der Verfassung

Eine weitere Debatte wird heute geführt um die symbolische Berücksichtigung der jüdisch-christlichen Tradition in der Verfassung, einem Dokument, das eine europäische Identität zum Thema hat. Für die einen stellt dies eine Offensive klerikaler Kräfte dar, für die anderen ist die panische Angst vor dem Klerikalismus ein unverständlicher Streit über Geschichtsbüchern. Erstere erinnern an die Zeiten kirchlicher Intoleranz, Letztere warnen vor laizistischer Heuchelei, die ein wesentliches Element aus dem europäischen Bewusstsein löschen möchte.

Diskussion über das Vertriebenenzentrum

Ich wäre kein Pole, ließe ich die heftige Konfrontation um die Idee der Errichtung eines Vertriebenenzentrums ausgerechnet in der Hauptstadt Deutschlands unerwähnt. Für uns Polen ist diese Standort-Debatte ein untrennbarer Teil der Debatte um eine europäische Identität - ganz Europa sollte das bedenken. Mit der Gründung der EU ging der Wille einher, nach dem Zweiten Weltkrieg den Nazismus auszumerzen. Damals bestanden keine Zweifel daran, wer Täter und wer Opfer war. Jeder Versuch, diese historische Tatsache zu relativieren, gefährdet das Wesen der Idee von einem demokratischen Europa. Wer jene Lüge toleriert, die die Leiden der Opfer mit den Leiden der Angreifer gleichsetzt, macht die mühselige Arbeit der Entnazifizierung zunichte, die europäische Demokraten gemeinsam geleistet haben.

Bewusstsein aus Fakten und Visionen

Ein europäisches Bewusstsein bildet sich aus Fakten sowie in Debatten über Bewertungen, Interpretationen und Visionen. Setzen wir alles daran, diese Debatten ehrlich und zivilisiert zu führen.