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Foto: Archiv
In den Vierteln am Bosporus wechseln einander Fischrestaurants und Discotheken ab, im noblen Bezirk Nisantasi reiht sich eine American Bar an die andere. Die Gegend rund um den Taksim Platz teilen sich Clubber und Transvestiten. Just auf dem weitläufigen Platz wollte die islamistische Stadtverwaltung Istanbuls noch vor wenigen Jahren eine Moschee errichten und scheiterte an der allgemeinen Empörung der Bürger. Seit Anfang der neunziger Jahre boomt die alte Stadt am Bosporus und wurde zu einer der wichtigsten Größen im internationalen Städtetourismus. Für die Türkei ist Istanbul heute das, was New York für die USA ist - schnell, laut, voll und heimliche Hauptstadt.

Das Herz des Istanbuler Nachtlebens ist der Stadtteil Beyoglu. Yakup Arslan arbeitet seit seinem zwölften Lebensjahr in der Pera, so der alte europäische Name des Viertels. Inzwischen hat er die 54 erreicht und sieht älter aus. "Früher trank ich im Schnitt drei große Flaschen Raki pro Nacht", sagt er "aber man wird älter. Heute schaffe ich nur eine." Yakup nippt an seinem Glas und erzählt von jenen Tagen, in denen sich anständige Leute nicht in die Seitengassen gewagt hätten, in denen eben diese Gassen von Zuhältern, Huren und Gaunern bevölkert waren.

Diese Zeiten sind vorbei. Zumindest bis auf weiteres. Die Pera, dort wo Istanbul, die Stadt der zwei Kontinente, ihrer kosmopolitischen Selbstdarstellung immer am besten gerecht wurde, ist in neuem Glanz erstanden - nach einer Jahrzehnte andauernden Durststrecke, in der nur wenige Lokale als Botschafter einer trinkfreudigen Boheme und des lukullischen Müßiggangs die Erinnerung an bessere Zeiten wach hielten. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein neues Lokal eröffnet wird; sei es ein Weinhaus, ein Restaurant, eine Bar oder ein Club.

Das Viertel blickt auf eine gute Tradition der Ausschweifung zurück. Anfang des 14. Jahrhunderts siedelten hier die Kaufleute aus Genua. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen ließen sich auch diese in der italienischen Siedlung nieder. Außerdem wurde das Viertel - selige Zeiten der osmanischen Politik der Toleranz - von Griechen und Armeniern, Franzosen und Venezianern, Juden, Kurden und Arabern bewohnt. Über die Jahrhunderte hin präsentierte sich die Pera einmal vorwiegend als Handelsstützpunkt und Botschaftsviertel, dann wieder als Sündenpfuhl und Gaunerenklave. Aber immer blieb sie dabei kosmopolitisches Zentrum der Stadt.

Das änderte sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts, als nationalistische Kräfte immer mehr den Kurs der Republik bestimmten. 1955 erreicht diese Tendenz einen traurigen Höhepunkt. Im September dieses Jahres fiel ein nationalistischer Mob über Beyoglu her. Kaufhäuser wurden geplündert, Wohnungen gestürmt, Läden verwüstet. Das war der Beginn des Niedergangs. Erst Anfang der neunziger Jahre beginnt der Wiederaufstieg Beyoglus. Die Hauptstraße Istiklal Caddesi, mit altem Namen Grand Rue de Pera, wird zur Fußgängerzone, westliche Nobelboutiquen öffnen ihre Filialen, und mit den Touristen und Kunden kommen auch die neuen Lokale und verdrängen die Halbwelt. Dem freien Markt und der Globalisierung wurde in den vergangenen Jahren viel angedichtet - im Positiven wie im Negativen. Auf die Szene in Istanbul jedenfalls haben die kapitalistischen Ikonen einen guten Einfluss gehabt. Heute strahlt die Pera wieder wie zu ihren besten Zeiten.

Bei Yakup Arslan zum Beispiel, dessen Lokal allabendlich von der Istanbuler Boheme bevölkert wird. Das "Yakup" ist eine klassische Istanbuler Meyhane, was wörtlich übersetzt Weinhaus bedeutet. In den meisten Meyhane wird jedoch Raki getrunken. Der passt auch besser zu den türkischen Gerichten. Folgerichtig wird in den vielen neuen, "Sarabhane" genannten Weinhäusern, die in den vergangenen vier, fünf Jahren entstanden sind, lieber Kontinentales aufgetischt. Neben exzellenten inländischen Weinen werden, zu einem deftigen Aufpreis allerdings, auch ausgesuchte französische und italienische Tropfen zu Käseplatten, Antipasti und Salattellern gereicht. Die Weinkultur boomt unter der jungen Bevölkerung. Als Mitte der neunziger Jahre die islamistische Refah Partisi erstmals mit Recep Tayyip Erdogan den Bürgermeister Istanbuls stellte, herrschte vorübergehend Sorge in Beyoglu. In der Meyhane "Cumhuriyet", wo einst auch Staatsgründer Atatürk trank, erörterten damals Wirte und Trinker, das ganze Viertel aus dem Stadtverband lösen zu lassen und dem Tourismusministerium zu unterstellen - so groß war die Angst vor einem Alkoholverbot.

Heute ist die islamistische Partei verboten und obwohl Erdogan mit seiner Neugründung AKP inzwischen Ministerpräsident ist, verschwendet keiner mehr auch nur einen Gedanken an ein vermeintlich drohendes Alkoholverbot. Schon gar nicht in den trendigsten Lokalen des Viertels. (Der Standard/rondo/17/10/2003)