Wien/Hamburg - Österreich werde gemäß dem EU-Verfassungsentwurf im Vergleich zu Deutschland überproportional stark im Europäischen Parlament vertreten sein. Dies kritisiert der deutsche Rechtsgelehrte Adrian Schimpf in einem Beitrag für "Spiegel Online". Schimpf ortet zudem in "Kernelementen der europäischen Verfassung große Gefahren für die demokratische Weiterentwicklung Europas".

"Der doppelte Österreicher"

Unter dem Titel "Der doppelte Österreicher" schreibt Schimpf, der an der University of Surrey im englischen Guildford deutsches Recht unterrichtet: "'One man - one vote.' Diese simple Idee ist ein Kernbestandteil jeder Demokratie. 'One man - one vote' heißt aber nicht nur, dass jeder Mensch eine Stimme hat. Sondern auch, dass jede Stimme gleich viel zählt...Es wäre ja auch merkwürdig, wenn...eine Stimme aus Nordrhein-Westfalen weniger wert wäre als eine aus Bayern. Man stelle sich nur den bundesweiten Aufschrei vor! Dabei ist genau das bei den Wahlen zum europäischen Parlament der Fall: die Stimme des Deutschen aus Freilassing ist nur halb so viel wert wie die Stimme des Österreichers aus Salzburg. Luftlinie zwischen beiden Städten: keine 20 Kilometer."

"Degressiv proportional"

Artikel 19 Absatz 2, Satz 3 des europäischen Verfassungsentwurfs beschreibe, so Schimpf, dieses Phänomen "in hölzerner Gesetzessprache": "Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind im Europäischen Parlament degressiv proportional, mindestens jedoch durch vier Mitglieder je Mitgliedstaat vertreten."

Hinter der Formulierung "degressiv proportional" verberge sich folgende Überlegung, erläutert Schimpf: je größer ein Land, desto größer die Anzahl der Menschen, die ein einzelner Europa-Abgeordneter vertreten müsse. "Bleiben wir bei den Deutschen und den Österreichern: Deutschland wird gemäß des einschlägigen Zusatzprotokolls zur Verfassung 99 Abgeordnete in das europäische Parlament entsenden...Bei rund 82 Millionen Einwohnern macht das genau einen Parlamentarier pro 828.000 Einwohner. Unsere österreichischen Nachbarn dürfen 18 Abgeordnete ins Europaparlament entsenden. Bei 8,1 Millionen Einwohnern ergibt das einen alpenrepublikanischen Abgeordneten pro 450.000 Einwohner. 20 Kilometer Luftlinie weiter östlich, und plötzlich heißt es "One man, two votes".

Deutschland hätte doppelt so viele Abgeordnete

Wäre die bundesrepublikanische Stimme so viel wert wie die österreichische, so dürften die Deutschen statt 99 Abgeordneten derer 182 nach Brüssel entsenden, kritisiert Schimpf.

"Aber die armen Einwohner der kleinen Staaten" heiße es immer wieder, meint der deutsche Rechtsexperte. Es könne doch nicht sein, werde gerne argumentiert, dass die Deutschen alles bestimmen und die Bewohner anderer Länder "von den Teutonen untergebuttert werden und gar nicht zu Wort kommen". Sehr einleuchtend sei das nicht. "Schließlich muss auch der Einwohner aus Mecklenburg-Vorpommern hinnehmen, dass aus seinem Bundesland gerade einmal 6 direkt gewählte Abgeordnete im Berliner Bundestag sitzen - von 299 Direktmandaten insgesamt", argumentiert Schimpf. (APA)