Richard Lourie
Sacharow Eine Biographie.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz.
€ 30,84
640 Seiten.
Luchterhand Literaturverlag,
München 2003.

Foto: Buchcover Luchterhand
Das haben wir Ihnen zu verdanken, dem Retter Russlands." So sprach Igor Kurtschatow, Leiter des sowjetischen Atomprojekts, nachdem am 12. August 1953 die von Andrej Sacharow entwickelte Wasserstoffbombe in der Steppe von Kasachstan erfolgreich getestet worden war. Sie löste ein Wettrüsten aus und erlaubte es der Sowjetunion in den folgenden knapp 40 Jahren, den Schein der machtpolitischen Gleichwertigkeit mit den USA aufrechtzuerhalten - bis der erschöpfte Koloss Ende der 80er-Jahre "wie ein billiges Fertighaus einstürzte". Und dass dies so kam, daran hatte wiederum Sacharow einen entscheidenden Anteil.

"Diese Supermacht in eine demokratische Gesellschaft zu führen hätte seinen thermonuklearen Beitrag ausgeglichen, obwohl er diese Arbeit nicht im geringsten bedauerte; damals waren Vaterlandsliebe und Gleichgewicht ein und dasselbe. Die beiden Seiten seines Lebens, Wissenschaft und Politik, lassen sich kaum voneinander trennen. Keine Wissenschaft konnte politischer motiviert sein als die Kernforschung, keine Politik konnte wissenschaftlicher geprägt sein als seine. Seine Politik ging aus der Wissenschaft hervor. Die Größe seiner wissenschaftlichen Leistung verlieh ihm eine ebenso große Autorität und eine relative Unbescholtenheit. Ausgerechnet die Wissenschaft rüttelte sein Gewissen wach, während er die Zahl der zu erwartenden Todesopfer für jede getestete Megatonne auf Tausende genau berechnete."

So heißt es am Ende dieser Biografie, die diesem außergewöhnlichen Menschen so gerecht zu werden scheint, wie dies eben möglich ist. Denn nicht nur der Titelheld, auch die Person des Autor erweckt hohe Erwartungen. Der Amerikaner Richard Lourie hat Sacharows Erinnerungen ins Englische übersetzt. Er kennt Sacharow von Gesprächen in Boston und Moskau, und er hält nach wie vor Kontakt zu dessen Witwe Jelena Bonner. Und er nennt das Subjekt seiner Erkundungen einen "Menschen mit einer größeren Intelligenz und Tugendhaftigkeit als alle, denen ich jemals begegnet bin".

Wer Louries fiktiven autobiografischen Stalin-Roman kennt (Stalin. Die geheimen Aufzeichnungen des Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili - ein absolutes Muss für jeden zeitgeschichtlich und literarisch Interessierten), erwartet auch hier Besonderes. Und wird nicht enttäuscht.

Andrej Sacharow wurde am 21. Mai 1921 geboren und starb am 14. Dezember 1989. Seine Geburt fiel in die schwere Hungersnot der eben erst offiziell gegründeten Sowjetunion, sein Tod in deren letzte Auflösungsphase. Was dazwischen lag, wird hier so einfühlsam und lebensnah (ganz selten auch nah am Kitschig-Sentimentalen) dargestellt, dass man das Buch nicht mehr weglegen will. Sacharow selbst hat das Singuläre seiner Erscheinung in zwei knappen Sätzen zusammengefasst, in denen sich sein ganzes Wesen offenbart: "Nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern aus dem Wunsch heraus, exakt zu sein, möchte ich feststellen, dass mein Schicksal sich von größerem Format als meine Persönlichkeit erwiesen hat. Ich war nur bemüht, auf der Höhe des eigenen Schicksals zu sein." Das ist so russisch wie nur irgendetwas: ein Mensch, verstrickt in außergewöhnliche gesellschaftliche Umstände und Entwicklungen, bemüht, sich von ihnen zu emanzipieren, ohne sich wirklich lösen zu können - und zu wollen.

Wenn Lourie schreibt, Sacharow habe die Entwicklung einer der fürchterlichsten Waffen niemals auch nur im Geringsten bereut, dann mag dies seinem subjektiven Eindruck und seiner in den direkten Gesprächen gewonnenen Überzeugung entsprechen. Und es ist offenkundig, dass Sacharow zutiefst davon überzeugt war, er habe mit seinem Beitrag zum Gleichgewicht des Schreckens entscheidend dabei mitgeholfen, die Welt vor der nuklearen Katastrophe zu bewahren.

Aber ebenso war von Anfang an die Erkenntnis da, dass hier auch noch etwas anderes geschah: "Wir, die Erfinder, Wissenschaftler, Ingenieure und Arbeiter, hatten eine furchtbare Waffe gebaut, die furchtbarste in der Geschichte der Menschheit. Doch ihr Einsatz würde außerhalb unserer Kontrolle liegen."

Alles, was später den Dissidenten Sacharow ausmachte, ist in diesem Satz angelegt: sein leidenschaftlicher Einsatz für die Menschenrechte, der ihm 1975 den Friedensnobelpreis einbrachte. Das war 15 Jahre vor dem Ende der Sowjetunion, das Sacharow niemals wollte, zu dem er aber sowohl als Wissenschafter als auch als Bürgerrechtskämpfer entscheidend beitrug.

Welcher Beitrag war der größere: der des genialen Wissenschafters, dessen Erfindung das Imperium in ein Wettrüsten trieb, mit dem es sich hoffnungslos übernahm; oder der des unbeugsamen Kämpfers gegen Repression und Totalitarismus, der das Ende des Sowjetreiches von innen heraus beschleunigte? Für sich hat Sacharow die Frage mit "Schicksal" beantwortet. Das aber wird seiner allergrößten Leistung nicht gerecht: durch persönliches Engagement und Opfer den Wert des einzelnen Menschen in einer zwangskollektivierten Gesellschaft klar gemacht zu haben. Dieses Vermächtnis bleibt auch in der gelenkten Demokratie des Russland unter Vladimir Putin unverändert aktuell. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 4./5.10.2003)