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Foto: apa/Filmarchiv
Schon zu Lebzeiten tat man sich mit der Klassifizierung Helmut Qualtingers schwer. Versatile Künstler waren und sind in der höfisch strukturierten österreichischen Öffentlichkeit und seiner ebenso feudal organisierten Kunstlandschaft ein Problem der Übersichtlichkeit. Der Stellenwert eines Künstlers war und ist, wenn nicht transparent und eindeutig, zumindest suspekt. Vor allem, wenn sein Platz wie bei Qualtinger zwar in der Öffentlichkeit, nicht aber explizit bei Hofe war. Österreich nach ’45, gekennzeichnet durch eine ausgedünnte und nicht diversifizierte Medienlandschaft, verkrustet durch voneinander abhängige, immobile Machtzentren, immer in der Verwechslung von Konsens und Paralyse existierend, und nicht zuletzt durch die nie stattgefundene seriöse Therapie des Nazitraumas, das war das Wirkungsfeld Qualtingers, als Autor und Bühnendarsteller, als Kabarettist und Filmschauspieler.

Vieles hat sich bis dato nicht wesentlich geändert, vor allem nicht das Feudale in Machtund Kunstfragen. Die Medienkonzentration hat sich sogar noch ein paar Schritte weiter Richtung Monopol entwickelt, das verdrängte Dritte Reich lässt die Zeit für sich arbeiten, und der stagnierende Konsens arbeitet gegen die Zeit.

In diesem Biotop also wirkte Qualtinger als Kabarettist, unsubventioniert – also kein Gaukler auf der Gehaltsliste des Fürsten, kein Günstling im eng gesteckten Reservat erlaubter Kritik. Gemeint ist hier demnach eher Nestroy denn Grillparzer, die explizite Ausnahme der Kunstgeschichte also, wo Kunst nicht der Bestätigung, Repräsentation und Akklamierung herrschender Hegemonien dient oder diese sanft in erlaubtem Rahmen kritisieren darf, es handelt sich also um einen der wenigen Korrelationspunkte von Kunst und politischer Freiheit – um politische Kunst (so das Gegenteil überhaupt existent ist) im eigentlichen Sinne, wo das Politische als aktiver, unabhängiger, nicht reaktiver Faktor in Erscheinung tritt. In einer Kunstdiskussion, die in Ermangelung von Begriffen und Argumenten zu einer Geschmacksdiskussion heruntergekommen ist und die einen Kunstjournalismus hervorgebracht hat, der unter weit gehendem Verzicht auf Kritik zugunsten von Meinungsjournalismus wiederum das erwähnte höfische Prinzip weiter pflegte, ist dieser Aspekt besonders signifikant. Qualtinger, oft mit dem Attribut „extrem“ in Zusammenhang gebracht, scheint unter diesem Gesichtspunkt der Job-Description des Kabarettisten eher "normal".

Selbstredend ist unabhängige Kunst eine Systemirritation, besonders wenn sie sich in einer Mediengesellschaft nahezu außerhalb der Steuerungsmechanismen bewegt. Zwei Strategien haben sich in diesem Zusammenhang immer bewährt: Ausgrenzung oder, sollte diese nicht reüssieren, die Umarmung des vergeblich Ausgegrenzten. So lässt sich zumindest posthum der widerwillig Umarmte wieder zurückführen in kontrollierte Bahnen und mithilfe kleiner Geschichtslügen, die ja bekanntlich meist schon am Abend der Gegenwart auftreten, die Ausnahme zur Regel zu machen und die Unordnung im System zu glätten.

Posthumes Lob, ebenso wie die uneigennützige Intrige eine österreichische Spezialität, dient im Falle Qualtinger nicht der wirklichen Achtung des Künstlers, sondern dem Eigenlob einer vermeintlich diskursiven Gesellschaft. Die Wertschätzung als Verwässerung, die Verlagerung des Schwerpunktes vom kritischen Inhalt zur Außergewöhnlichkeit des Phänomens und deren Ausstellung ist eine historisch erfolgreiche Strategie zur Ablenkung vom Gegenwartsbezug. Vermutlich liegt das Copyright für diese Vorgangsweise bei vazierenden Jahrmärkten vergangener Jahrhunderte.

Das Bleibende, in bildungsbürgerlichen und fortschrittlichen Kunstbeurteilungen meist als Hauptkriterium für den Wert eines Kunstwerks oder Künstlers herangezogen, ist vor allem unter dem Aspekt der Unschärfe zu untersuchen. Zum Ersten ist die historische Unschärfe zu erwähnen, im Bewusstsein, was Geschichte eigentlich bedeutet. Abgesehen von der pikanten Ambivalenz des Wortes im Deutschen, die impliziert, dass jede Form der Geschichtsschreibung natürlich eine Geschichte ist, ein mehr oder weniger willkürliches Relikt der Hofberichterstattung, ein Surrogat der Wahrheit, eine der Realität ähnelnde Verkürzung. Eine Auswahl, unter verschiedenen Selektionskriterien getroffen, die machtpolitisch oder wie in der Kunstgeschichtsschreibung meist geschmäcklerisch motiviert sind. Eine Geschichte mit einem wahren Kern wahrscheinlich, dennoch nur eine Möglichkeit, ein Aspekt, ein Segment der Wirklichkeit, und nicht mehr und daher nur bedingt zuverlässig.

Zum Zweiten wäre die Unschärfe zu erwähnen, die das Bleibende als gleichmachendes Element aller Kunstgattungen etabliert. Warum sollte Kunstformen, denen das Quasi-Fertige, Archivierbare eigen ist, der Vorzug gegeben werden gegenüber anderen, deren Inhalt es ist, Vergängliches in Form und Inhalt darzustellen? Warum sollte in der Kunstbetrachtung Konservatives über Dissipatives gestellt werden? Kunstbetrachtung ohne Einbeziehung der Zeitebene halte ich für sinnlos, das Bleibende stellt aber nur eine Perspektive in dieser Hinsicht dar. Priorität hat der Dialog mit der Gegenwart, die großen, Jahrhunderte überdauernden Genies verdanken nicht zuletzt ihren Ruhm dem günstigen Geschick der Geschichtsselektion und der relativen Unveränderlichkeit der großen Themen.

Erwähnenswert ist auch der Umstand, dass "bleibende" Kunstwerke mit ihrer unveränderbaren Angriffsfläche leichtere Opfer politischen Zugriffs abgeben. Ein täglich wechselndes Theaterereignis - und ich spreche hier nicht vom Theater unter der Domäne der Literatur, eher vom Theater im Artaudschen Sinne, der Bilderzerstörung, der Fluktuation, volatil in seinem Wesen - bietet im Kosmos der Zwischentöne weniger Oberfläche für Zensur und Manipulation. Wer Qualtinger jemals live erleben durfte, weiß, dass jede Form der Literarisierung seines uvres eher Verkürzung als Erhebung darstellt.

Die doppelte Brechung seines Schaffens durch die Verfilmung der Literarisierung Qualtingers war die Aufgabenstellung von "Qualtingers Wien" (siehe unten). Das Problem lag also darin, im größtmöglichen Respekt für den Künstler die Transformation mit möglichst geringer Erosion erfolgen zu lassen.

Wer Theater erleben will, muss dieselbe Luft atmen wie die Akteure. Film atmet nicht. Der natürliche Dialog, die Kommunikation der Wirklichkeit, das Sender-Empfänger-Schema ist im Kinosaal reduziert. Zwar ist es möglich, den objektiv unveränderten Film mehrmals unter verschiedenen Gesichtspunkten, in anderen Stimmungen oder Zugangsweisen zu betrachten, doch fehlt die Möglichkeit, spontan auf den Rezipienten zu reagieren. Diesen Umstand in Einklang zu bringen mit Qualtingers Animo, ständig Reaktionen zu provozieren, in der Reaktion bereits die Veränderung der Darbietung einzubinden, Theater also im originären Sinn zu machen, war das Kernproblem der filmischen Adaption.

Abschließend lässt sich sagen, dass "Qualtingers Wien", so speziell die Anforderungen auch gewesen sein mögen, ähnliche Problemstellungen aufwies wie vergleichbare Literaturverfilmungen.
Ungeklärt bleibt die Sinnhaftigkeit solcher Adaptionen, besonders wenn es sich um eine zweifache Brechung des Ursprungsereignisses Bühne über die Literarisierung zur Verfilmung handelt.

Und schließlich bleibt die banale Frage, ob man Qualtinger gerecht werden kann mit Interpretationen a posteriori, sei es auf literarischer oder filmischer Ebene, ob Abstraktion sich dem Künstler annähern kann, nicht unter dem Aspekt falsch verstandener Ehrfurcht, sondern in Hinblick auf adäquates Verständnis. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe, 27./28. 9.2003)

Alfred Dorfer ist Kabarettist und Autor unter anderem der Fernsehverfilmung "Qualtingers Wien" (ORF 1997; Drehbuch gemeinsam mit dem Regisseur Harald Sicheritz).