Am 11. 9 1903 wurde Theodor W. Adorno in Frankfurt am Main geboren. Als Soziologe, Philosoph, Musikdenker wurde er weltberühmt. Aber wird er denn tatsächlich noch gelesen? - Kritisch schreiben ihn ehemalige Mitarbeiter und Schüler - Jürgen Habermas, Oskar Negt, Alexander Kluge - weiter. - Die Menschen sind überhaupt noch nicht sie selbst. (...) Das befreite Ich, nicht länger eingesperrt in seiner Identität, wäre auch nicht länger zu Rollen verdammt.

Immer wollte er Musiker, zumindest Kritiker, werden, immer kam etwas dazwischen: das eigene Denken, der Nationalsozialismus, der Großorganisator Max "Mammut" Horkheimer samt Fragebogenforschung im amerikanischen Exil, die Universität danach. Aber aus allem, was dazwischen kam, hat Adorno Material bezogen für seine Denkkomposition.

Diese Partitur mit Haupt-und Nebenthemen aus Soziologie, Ästhetik, Ethik (Minima Moralia, 1942/45) und Erkenntnistheorie (gegen Husserl, in der Negativen Ästhetik 1966 sogar gegen Hegel) gibt in ihrer Vielfalt so viele Anknüpfungs- und Absprungpunkte, dass Wirkung und Gegenwirkung in einen "Geburtstagsartikel" einbezogen werden müssen. Sonst wird die Würdigung statisch wie ein Denkmal. Denkmäler aber sind, wie Musil anmerkte, oft "dazu da, um übersehen zu werden".

Deshalb kein Denkmal, sondern die Frage: Wie entwickeln sich Themen bei Adorno und wie werden bei seinen berühmt gewordenen Schülern und Mitarbeitern, bei Jürgen Habermas, Oskar Negt, Alexander Kluge Stimmen aufgenommen oder Gegenthemen entwickelt?

Das "Wunderkind"

Zunächst sind sich alle, die ihn in freier, druckreifer Rede in Frankfurt gehört haben, einig in einer Erfahrung, die Jürgen Habermas, Adornos Assistent ab 1956, gesprächsweise so fasste: "Adorno war ein Genie. Adorno hatte eine Präsenz des Bewusstseins, eine Spontaneität des Gedankens, eine Kraft der Formulierung, die ich nie zuvor oder seitdem gesehen habe. Er hatte auch nicht die Freiheit, unter sein Niveau zu gehen; er konnte die Anspannung des Gedankens nicht für einen Moment aussetzen."

Ist es das, was die vielen die Adorno-Biografen derzeit schlicht "Wunderkind" nennen? Nein. Der Sohn des ins Frankfurter Großbürgertum aufgestiegenen jüdischen Weinhändlers Oskar Wiesengrund und der Sängerin Maria Calvelli-Adorno, Theodor Wiesengrund-Adorno, galt als Wunderkind, ja. Aber was ist das eigentlich? Es kann dazu nicht ausreichen, dass der Dreizehnjährige in seinem Tagebuch ein Drama, Karl der Neunte, schreiben will. Normalerweise gelten als "Wunderkinder" ja doch bloß Zirkusäffchen, die akrobatisch Geige spielen. Das eigentliche Wunder an diesem Bürgersohn zeigt sich darin, dass er das Milieu, das ihn so behütet, zugleich und früh schon aufbricht. Hier ist "Teddie" aber wohl viel eher ein Wunder-Jugendlicher: In einem Milieu voller Musik zwischen Konzert und Oper - der Kunst, des Bürgertums - durchbricht schon der 17-Jährige in ersten Kompositionen die Tradition.

Adorno macht das aus einem Umfeld heraus, das er in einem Text über Wien so fasst: "Offenbar bedarf es einer starken Tradition, damit einer über die Tradition hinausgehe. Darin waren Schönberg, Karl Kraus und Adolf Loos eines Sinnes; Feinde des Ornaments, des Behagens am unverpflichtend Ästhetischen, das notwendig ins Phäakische ausartet. Ihre Polemik galt dem Schmock aller Bereiche."

"Fremder" Wohllaut

Und in diesem Geist schrieb schon der 19-jährige unglaublich souveräne, analytische Kritiken. Etwa zu einer Aufführung von Béla Bartóks Violinsonate in Frankfurt: "Sie mag wohl den Freunden musikantischen Behagens und unerschütterter Spielsicherheit abstoßend begegnen." Ihm aber vermittelt sie "einen Wohllaut, ähnlich dem einer fremden Sprache".

Dieses Fremde, autonom und schmerzend Herausragende wird Adorno fast fünf Jahrzehnte später in seiner Ästhetischen Theorie noch als eine Grundvoraussetzung von Kunst fordern. Er wird Kunst auch in der Negativen Dialektik als jenen Bereich von Freiheit fassen, wo Widersprüche nicht in faule Synthesen aufgelöst werden. Vielmehr: Die Widersprüche der Realität "kehren wieder in den Kunstwerken als immanente Probleme ihrer Form".

Das Verhältnis zur Gesellschaft ist dabei aber nicht das einer einfachen Widerspiegelung - das wäre für Adorno nur die Wiederholung des Immergleichen, wie es sich in der Industriegesellschaft eben verhängnisvoll in einer "Dialektik der Aufklärung" düster vollzieht. Und diesen Bann des Immergleichen gilt es gerade aufzubrechen. Das geht nicht durch Wiederholung im "Realismus", sondern nur vermittelt durch kompliziertere Form. Deutlich macht dies Adorno an vielen Beispielen in seiner Philosophie der neuen Musik (1948):

Töne, Klänge tragen in sich "die Male des geschichtlichen Prozesses", und deshalb ist die intensive Beschäftigung mit dem Material - Harmonien in der Musik, Worte und Gattungen in der Literatur - kein beliebiges Spiel: "Dabei ist die Meinung, Beethoven sei verständlich und Schönberg unverständlich, objektiv Trug. Die Dissonanzen, die sie schrecken, reden von ihrem eigenen Zustand: Einzig darum sind sie ihnen unerträglich. Die Verfahrungsweise der neuen Musik stellt in Frage, was viele von ihr erwarten: in sich ruhende Gebilde."

Ästhetik der Unruhe

Diese Ästhetik der Unruhe blieb - nicht nur bei Alexander Kluge - wirksam: Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Hans-Werner Henze sammelten sich in den frühen 50er Jahren bei den "Darmstädter Gesprächen" um Adorno. Und auch die Musikbeschreibungen, die der Adorno-Schüler Joachim Kaiser in Beethovens Klaviersonaten und ihre Interpreten 1965 vorlegte, wären nicht ohne die Sprache möglich, die erst Adorno in die Musik einführte.

Dissonanzen in der Gesellschaft trieben aber Adornos eigenes Leben und Denken ganz weit von der Ästhetik weg: Seit 1931 war der Stuttgarter Industriellensohn Max Horkheimer Direktor des 1924 gegründeten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, einer Stiftung des Getreidehändlers Hermann Weil, dessen Sohn sich eine Forschungsstelle zur Ergründung der Ursachen des Elends in der Welt gewünscht hatte. (Brecht notierte böse in seinem Tagebuch, diese Ursachen seien sie wohl selbst.)

Max Horkheimers Programm war interdisziplinär ausgerichtet: Soziologen, Philosophen, Literaturwissenschafter, Psychologen sollten gemeinsam Gesellschaftsanalyse betreiben. Neben Herbert Marcuse, Leo Löwenthal, Erich Fromm, Franz Neumann und anderen wurde auch Adorno angeheuert. Hier bekam er es mit empirischer Sozialforschung zu tun. Sie lag ihm nicht. Noch schlimmer wurde es dann in Amerika: Horkheimer vermittelte den über Oxford nach Kalifornien geflohenen Adorno an ein Forschungsprojekt zu Hörgewohnheiten im Radio, das der Wiener Soziologe Paul Lazarsfeld leitete. Für Adorno war eine Forschung, die subjektive Gefühle einzig über Fragebögen ermittelte, unannehmbar.

Dabei hatte er Recht und Unrecht zugleich, und dieser Zwiespalt prägt auch seine soziologischen Arbeiten nach der Rückkehr nach Frankfurt. Sie scheinen vielen in seiner Nachfolge problematisch.

Zu Recht etwa weigert sich Adorno, einen Begriff wie "Gesellschaft" simpel zu definieren: Sie sei Prozess. Fragebögen vergessen, dass "Gesellschaft" nicht von unten nach oben, sondern mindestens so stark von oben nach unten wirkt: "Es gibt kein soziales Faktum, das nicht von Gesellschaft determiniert wäre. Sie stößt auf den Einzelnen als Nichtidentisches, als Zwang." Gesellschaft verlangt Theorie, und anstatt alles auf statistische Begriffe zu bringen, wäre gerade "die Nichtverstehbarkeit zu verstehen", die undurchsichtigen Verhältnisse, die den Einzelnen prägen.

Weil aber Adorno immer vom "Ganzen" her spricht, das Ganze aber zugleich nach dem oft zitierten Satz "das Unwahre" ist, so fragt sich, wie diesem Unwahren im Ganzen nun exakt auf die Spur zu kommen wäre. Das ist der Punkt, wo etwa Oskar Negt und Jürgen Habermas eine andere Linie einschlagen als Adorno. Habermas begann am Institut 1956 mit empirischer Sozialforschung (Student und Politik). Gleichzeitig fiel er bei Horkheimer in Ungnade: Das sei ein gefährlicher, eitler Marxist, schrieb der emeritierte Horkheimer aus dem Tessin an Adorno - der seinen Assistenten beibehielt.

Übermaß an Lektüre

Später wurde Habermas, der im Unterschied zu Adorno nie "frei", sondern immer aus einem Übermaß an Lektüre heraus philosophierte, von Adorniten vorgeworfen, er liquidiere die "Frankfurter Schule" - er verzichte auf deren wichtigstes Element, die Dialektik. Stimmt. Auch sonst: Während die Dialektik der Aufklärung (1944/1947) eine Unheilsgeschichte des Geistes entwirft und von unausweichlicher Negativität kündet, ist Habermas optimistischer. Der Einsamkeit des sich im Sirenengesang drehenden Verstandes setzt er in seiner Theorie des kommunikativen Handelns die Hoffnung auf "herrschaftsfreie Kommunikation" entgegen.

Seine Theorien stützt Habermas ab mit einem Regelwerk, das er aus einer Philosophie, die in der "Schule" ignoriert wurde, entwickelt: Sprachphilosophie und amerikanischer Pragmatismus. Vielleicht liegen aber die besten Stücke dieses Denkens doch wieder viel näher am ursprünglichen Zentrum Adorno: die kleineren politischen Analysen etwa oder der frühe Band Technik und Wissenschaft als Ideologie, hervorgegangen aus der Auseinandersetzung mit dem Positivismus. Wie Adorno kämpfte Habermas gegen Karl Poppers gesellschaftsfreie "Falsifikationen".

Kritisch auch Oskar Negt. Ihm reichte eine philosophische Kritik des Kapitals nicht mehr aus. In Büchern wie Lebendige Arbeit, enteignete Zeit ist Negt viel empirischer, bleibt an konkreter, gegenwärtiger Praxis, bis hin zur Arbeitszeitdebatte. Und auch in seinen gemeinsamen Projekten mit Alexander Kluge (etwa Maßverhältnisse des Politischen) zieht er stark die empirische Ebene ein. - Was bleibt? Das Ungelöste, das Nichtidentische, die Sprengkraft der Kunst.

Die Menschen sind überhaupt noch nicht sie selbst. (...) Das befreite Ich, nicht länger eingesperrt in seiner Identität, wäre auch nicht länger zu Rollen verdammt.
(DER STANDARD; Printausgabe, 10.09.2003)