Berlin - Kurz vor Beginn der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) redete Weltbank-Präsident James Wolfensohn allen Beteiligten nochmals ins Gewissen. Arm wie Reich könnten gewinnen, wenn es im mexikanischen Cancun zu einem Durchbruch komme. Über Zollsenkungen seien nicht nur Ersparnisse im globalen Handel von 520 Mrd. Dollar (468 Mrd. Euro) möglich, auch die Zahl der Armen könne um bis zu 140 Mio. sinken. Doch um dies zu erreichen, müssten sehr viele der 146 WTO-Staaten über ihren Schatten springen. Manch ein Diplomat hält eine Einigung gar für unmöglich.

Rund 20 Themen stehen auf der Agenda der Konferenz in Cancun - von Agrarsubventionen über den Zollabbau bei Industriegütern und Dienstleistungen bis zum Schutz geistigen Eigentums. Über allem schwebt das große Versprechen, den Entwicklungsländern eine fairere Teilnahme am Welthandel zu ermöglichen.

Als im November 2001 in Qatar die neue Welthandelsrunde eingeläutet wurde, waren viele in der WTO noch optimistisch. Doch zwei Jahre nach Start der "Entwicklungsrunde" von Doha gibt es kaum Fortschritte. Der Welthandel, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um durchschnittlich 6 Prozent pro Jahr wuchs, kam in den vergangenen Jahren gerade noch auf ein Plus von mageren 1,5 Prozent. Scheitert Cancun, ist kaum vorstellbar, dass die Doha-Runde wie geplant zum 1. Jänner 2005 abgeschlossen werden kann.

Schlüssel für eine Einigung ist die Agrarfrage, bei der die Fronten quer durch die Lager von Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern verlaufen. In Doha wurden dazu drei Ziele vorgegeben: ein besserer Marktzugang über den Abbau von Zöllen, die schrittweise Abschaffung von Exportsubventionen und eine deutliche Senkung von Direkthilfen an Bauern.

Dabei geht es um viel Geld: Die 30 Mitglieder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) - also alle wichtigen Industriestaaten - zahlten im vergangenen Jahr 311 Mrd. Dollar zur Unterstützung ihrer Bauern. 99 Mrd. Dollar entfielen dabei auf die Europäische Union (EU), 97 Mrd. Dollar auf die USA.

Die Hilfen ermöglichen es US- und EU-Bauern, auf dem Weltmarkt billig anzubieten - und machen so den Entwicklungsstaaten ihre Einnahmequellen kaputt. Nach Berechnungen des in Washington angesiedelten Internationalen Instituts für Lebensmittelforschung (IFPRI) entgehen ihnen jährlich 40 Mrd. Dollar durch die Subventionspolitik der Reichen.

Damit sich dies ändert, wollen 980 Nichtregierungsorganisationen in Cancun auf die Einhaltung der in Doha gemachten Versprechen pochen. Einige ihrer Vertreter sehen aber in der überraschend Mitte August erfolgten Verständigung der Agrar-Dauerkontrahenten USA und EU eher ein schlechtes Zeichen. Aus ihrer Sicht bringt das Papier wenig Greifbares für die Entwicklungsländer und fordert von ihnen zudem eine Öffnung ihrer Märkte für Produkte aus Industriestaaten. Auch Japan hat Vorbehalte, denn Tokio ist nicht zu wesentlichen Abstrichen bei seinen Importzöllen von derzeit bis zu 500 Prozent zum Schutz der Reisbauern bereit.

Die über Kreuz liegenden Positionen haben dazu geführt, dass im Entwurf für die Schlusserklärung von Cancun viele leere Klammern stehen. Dort müssen in dem mexikanischen Urlaubsort nun Zahlen eingesetzt werden. Um wie viel werden Hilfen gekürzt, um wie viel Subventionen? Und für welche Produkte und bis wann? Lange Nächte während der fünftägigen Konferenz sind programmiert. Das ein oder andere Zugeständnis an Sonderinteressen einzelner Agrarschwergewichte wie Brasilien oder Indien wird unumgänglich sein. Was nach dem zermürbenden Feilschen über die Agrarfrage von den anderen Themen noch übrig bleibt, wagt niemand vorherzusagen. (APA)