Als Augusto Pinochet sich am 11. September 1973 an die Macht putschte, hatte er die USA und deren Doktrin der nationalen Sicherheit auf seiner Seite. Washington verfolgte damals mit großer Sorge die sozialistisch angehauchten, politischen Emanzipationsversuche bei den südlichen Nachbarn, die vor dem Hintergrund des Kalten Krieges als Bedrohung der eigenen Sicherheit gesehen wurden. Als Bollwerk gegen die Ausweitung des Kommunismus wurden die Streitkräfte Lateinamerikas indoktriniert und vielerorts an die Macht geputscht oder an der Macht gehalten. Argentinien, Uruguay, Paraguay, Brasilien, Guatemala, Panama - lang ist die Liste der von den USA geduldeten Militärdiktaturen.

30 Jahre später wiederholt sich die Geschichte unter neuen Vorzeichen. Wieder steckt Lateinamerika in einer schweren Krise, die Volkswirtschaften stagnieren, Arbeitslosigkeit und Armut steigen, die traditionellen Politiker und Parteien gelten als korrupt und verlieren an Rückhalt, linke Populisten sind auf dem Vormarsch, der Neoliberalismus liegt in Trümmern, allenthalben regen sich soziale Proteste. Die Streitkräfte werden von den USA und auch von mancher in Nöten befindlichen Regierung als rettende Stütze empfunden.

So musste Boliviens konservativer Präsident Gonzalo Sanchez de Lozada Anfang des Jahres die Panzer auffahren lassen, um eine Polizeimeuterei einzudämmen und gegen Plünderer vorzugehen. In Ecuador, Venezuela und möglicherweise auch bald in Guatemala regieren ehemalige Putschisten, die zwar durch Wahlen legitimiert sind, einen großen Teil ihrer Macht aber auf die Streitkräfte stützen, die durch gezielte Ausmusterungen politisch gefügig gemacht wurden.

Die Rückkehr der Militärs in die Politik geht einher mit einem herben militärischen Legitimationsverlust. Seit Ende des Kalten Krieges, der Bürgerkriege in Mittelamerika und der letzten Grenzkonflikte in der Region fehlt den Streitkräften eine Aufgabe, die ihre Existenz und höhere Verteidigungsausgaben rechtfertigt sowie das angekratzte Prestige aufpäppelt.

Hier kommt die neue kontinentale Sicherheitsdoktrin der USA zum Tragen. Washington hat vielfältige neue Bedrohungen für seinen an Bodenschätzen reichen Hinterhof ausgemacht: organisiertes Verbrechen, Geldwäsche, Drogenhandel. Keine aber ist so zugkräftig wie der "Terrorismus" - ein bewusst dehnbarer Begriff, unter dem die in die Enge getriebenen Eliten Lateinamerikas flugs ihre jeweiligen Gegner summierten, angefangen bei der kolumbianischen Guerilla über die Drogenmafia Perus bis hin zu Jugendbanden in Mittelamerika oder linken Oppositionsparteien in Bolivien.

Zwar unterhalten die USA noch immer Stützpunkte etwa in Honduras, Kolumbien und Ecuador. Aber diese Einrichtungen verschlingen Geld, sind größtenteils ungeeignet für die Bekämpfung der neuen Gefahren und schaffen außenpolitische Probleme - wie in Puerto Rico, wo sich die Bevölkerung gegen einen Schießübungsplatz wehrte - weshalb das US-Verteidigungsministerium neue Lösungen sucht. Der Einsatz von Söldnern und die Aufrüstung willfähriger Armeen (Kolumbien) gehört ebenso dazu wie gemeinsame Manöver und die Versendung von US-Soldaten, aber auch die Schaffung einer kontinentalen Streitmacht.

Das geht den meisten Regierungen in der Region allerdings zu weit. Sie fürchten um ihre Souveränität, und dass aus der Eingreiftruppe eine Mini-Nato wird, die sich den USA unterzuordnen hat. Auch die Streitkräfte insbesondere aus ehemaligen Bürgerkriegs- und Diktaturländern sind gebrannte Kinder und lehnen es strikt ab, erneut die "schmutzige Arbeit für die Politiker" zu machen, wie ein salvadorianischer Oberst es definiert. "Wir sind nicht dafür ausgebildet, gegen die Drogenmafia zu ermitteln oder eine demonstrierende Menschenmenge in Schach zu halten; Panzer und Kampfjets sind dafür denkbar ungeeignet", schlägt der brasilianische Vize-Admiral Murillo De Moraes in die gleiche Kerbe.

Diejenigen, die dem Drängen Washingtons nachgaben, haben damit keine gute Erfahrungen gemacht. So wurde in Mexiko, wo die Polizei notorisch bestechlich ist, das Militär auf die Drogenmafia gehetzt. Das Ergebnis: Zahlreiche Uniformierte sitzen wegen Korruption im Gefängnis, andere liefern sich immer wieder Schusswechsel mit der Polizei, wobei meist nicht klar ist, welche der beiden Gruppen gerade die Drogenlieferung schützt und welche sie zu beschlagnahmen versucht.

Deshalb steht der argentinische Verteidigungsexperte Marcelo Sain der neuen US-Doktrin kritisch gegenüber. Sie sei viel zu vage. "Es besteht die Gefahr, soziale Konflikte zu einem Sicherheitsproblem zu erklären", warnt er. "Es wäre sinnvoller und auch billiger, effiziente Polizeikräfte zur Bekämpfung der neuen Gefahren aufzubauen." Und es sei an der Zeit, dass Lateinamerika endlich eine eigene Sicherheitsdoktrin definiere, fordert der peruanische Experte Manuel Bernales. Ein Beispiel für die Eigenständigkeit? "Für die USA ist die Einwanderung aus Lateinamerika ein Sicherheitsproblem. Für uns ist sie eine wirtschaftliche Notwendigkeit und ein gesellschaftliches Ventil."(DER STANDARD, Printausgabe 6.9.2003)