Salzburg - Schrecklich! Nach dem ersten Satz von Franz Schuberts Unvollendeter hat nicht gerade nur ein verschwindender Teil des im Großen Salzburger Festspielhaus versammelten Publikums zu applaudieren begonnen. Wirklich gar so schrecklich? Muss man wirklich ein Werk, das man sich anhört, schon so gut kennen, dass man es sich eigentlich gar nicht mehr anzuhören braucht? Und außerdem, warum soll die von der Bildungspolitik seit Jahrzehnten ins Werk gesetzte Ausmerzung der musischen Erziehung nicht endlich ihre Früchte tragen?

Last not least: Wenn man in den uns allen doch als leuchtendes Vorbild dienenden USA bei Aufführungen von Bruckner- und Mahlersymphonien mitunter zwischen den Sätzen Buffetpausen einlegt, wird man in Salzburg nach einem Schubertsatz wohl noch ein bisschen klatschen dürfen.

Außerdem ist Spontaneität nichts Schlechtes. Zumal sich Mariss Jansons ja sichtbar und seine auffällig zahlreich von Damen durchsetzte Musikerschar gut hörbar alle Mühe gaben, einen zwischen Podium und Zuschauerraum bestehenden emotionalen Firewall zu durchbrechen. Ganz besonders war dieser während ihres montäglichen Auftritts in der (für Konzerte übrigens ganz und gar ungeeigneten) Felsenreitschule spürbar.

Einer der Hauptgründe dafür mag im späten Beginn dieser Konzerte liegen. Man müsste einfach wissen, dass in unseren Breiten die Aufnahmebereitschaft für ein dicht programmiertes Programm um neun Uhr abends eben schon erheblich reduziert ist. So, dass sich die Frage erhebt, wer da von Musik nun weniger begriffen hat: jene, die nach einem Symphoniesatz klatschen, oder die, die den Unfug solcher Spätkonzerte von der Mortier-Ära nun eins zu eins weitertreiben.

Mag sein, dass Jansons und sein Team auf die müde Aura des Zuschauerraums mit allzu grellen Akzenten überreagierten. Bei Ludwig van Beethovens 2. Symphonie führte dies zu einem durchaus reizvollen Ergebnis: Alle rhythmischen Eigenwilligkeiten, melodischen Brüche und kühnen thematischen Verschränkungen wurden mit klinischer orchestraler Virtuosität geradezu röntgenologisch diagnostiziert und ergaben für einen Audiopsychologen ein möglicherweise reizvolles Protokoll von Beethovens beginnender Ertaubung.

Der gewünschte Durchbruch wurde jedoch nicht erzielt. Auch nicht mit einer in filmmusikalisch greller Brillanz vorgeführten 10. Symphonie von Dimitri Schostakowitsch. Er gelang erst im Großen Festspielhaus am Schluss des zweiten Abends der Pittsburgher, nicht mit Schubert, sondern mit Gustav Mahlers 1. Symphonie. Dieses letzte Atout, das die Gäste im Talon hatten, spielte Jansons unter schonungslosem Einsatz aller Eindringlichkeit, derer seine Gebärdensprache mächtig ist, so wirksam aus, dass die gesamte Salzburger Partie durch den darauf folgenden Jubel samt Standing Ovations für die Pittsburgher dann doch gewonnen schien. Was der Dirigent mit sichtlicher Erleichterung und Freude zur Kenntnis nahm. (Peter Vujica/DER STANDARD; Printausgabe, 28.08.2003)