Nationale Tragödien sind Momente, in denen eine Gesellschaft zusammenfindet und ihren Schmerz gemeinsam zu überwinden versucht. Nicht so in der Türkei. Selbst das schwerste Grubenunglück in der Geschichte der türkischen Republik wird nun zu einer bizarren Demonstration des Herrschaftsstils von Tayyip Erdogan. Alles Maß scheint ihm entglitten, jeder Sinn für Respekt im Umgang mit den Bürgern.

Die Prügelszenen in der Stadt Soma, bei denen erst ein Berater des Regierungschefs handgreiflich wurde und später offenbar Erdogan selbst einen Minenarbeiter zumindest verbal angriff, sind das eine. Erdogans wunderlicher Einfall, als Reaktion auf den Massentod in Soma eine Liste historischer Grubenunglücke in anderen Ländern zu verlesen, das andere. In der Welt von Tayyip Erdogan ist die Katastrophe im Kohlenbergwerk etwas nahezu Banales, ein lästiger Vorfall, der seine politischen Kalkulationen auf dem Weg ins Präsidentenamt in knapp drei Monaten stört. "So etwas passiert", sagt er.

Sicherheitsvorschriften nicht ernst genommen

So etwas passiert jedenfalls in einem Land, in dem Sicherheitsvorschriften nicht ernst genommen werden und wo schnell Geld zu machen und Prestige wichtiger sind als der Mensch. In keinem anderen Land der Welt gibt es mehr tödliche Arbeitsunfälle als in der Türkei und in China. Für die mehr als 280, vielleicht gar 400 toten Grubenarbeiter in Soma ist aber auch die türkische Regierung verantwortlich: Den staatlichen Kontrolleuren entging, dass es in der Mine keine Überlebenskammern für die Kumpel gibt, keine ausreichende Zahl von Gasmasken, dafür elektrisches Gerät, dessen Gebrauch unter Tag lebensgefährlich ist.

Parteifunktionäre, Minister und Regierungsschreiber sind schon dabei, Kritik an Erdogan niederzubügeln. Man sollte sich nicht täuschen: Die Verehrung für den Premier ist so irrational, dass er auch diese Krise durchstehen kann. (Markus Bernath, DER STANDARD, 17.5.2014)