Chris Müller, Direktor und künstlerischer Leiter der Linzer Tabakfabrik, wohnt im sogenannten Tragödienbau. Dass es keineswegs tragisch ist, dass es bei ihm überall wie auf der Baustelle ausschaut, erfuhr Wojciech Czaja.

"Ich wohne mit meiner Familie im Tragödienbau in Linz. Das ist die ehemalige Werkswohnhausanlage der Austria Tabak, in der sich früher, so will es die Legende, viele familiäre Tragödien abgespielt haben sollen. Das Haus stammt aus den Sechzigerjahren. Die Wohnung selbst ist gemietet und hat 68 Quadratmeter. Wir haben sie vor einigen Jahren über einen Notruf auf Facebook gefunden. Das Gute daran ist die Lage: Der Hof ist riesig, die Bewohner sind sehr nett, lauter ehemalige Arbeiter der Tschickbude, und meine Kinder sind in einer Minute in der Europaschule und im Kindergarten.

"Ich liebe dieses Prozesshafte, dieses programmatische Zertrümmern von Klischees." Künstler und Tabakfabrik-Leiter Chris Müller auf seiner Schlafbühne. (Foto: Dietmar Tollerian)
Foto: Dietmar Tollerian

Die einzige Tragödie für uns ist, dass wir um ein Zimmer zu wenig haben. Doch nachdem die Kinder vorgehen, haben meine Frau Kerstin und ich beschlossen, die beiden kleinen Zimmer unserer Tochter Mavie (3) und unserem Sohn Glenn Müller (7) zu überlassen. Die Konsequenz dieser Entscheidung ist das fehlende Schlafzimmer. Und so hab ich im Wohnzimmer eine Schlafnische gebaut, wobei man eher von einer Schlafbühne, von einem richtigen Schlafbühnenbild sprechen kann.

Ist alles selbstgemacht. Ich meine, so richtig selbstgemacht. Ich bin ja gelernter Tischler und Treppenbauer. Als Kind wollte ich immer Rockstar, Baulöwe, Förster oder Gärtner werden. Die Zukunft war bis zuletzt nicht klar, und so wurde ich halt Handwerker und Künstler. Bis auf den Rockstar jedoch blitzen all diese frühen beruflichen Tugenden bei uns hervor und machen sich hie und da in Form von gelben Doka-Schalungsplatten, von Birkenbaumstammregalen und immergrünem Rasenteppich bemerkbar.

Was die Birke betrifft: Die hab ich auf dem Fußballplatz in meinem Heimatort Thomasroith im Hausruck selbst gefällt, und zwar getarnt als Sturmschaden. Natürlich ist das in erster Linie eine Installation, aber schon auch ein ganz normales Regal, in das wir Bücher hineinstellen. Die gelben Doka-Platten sind billig und sehr leicht zu bearbeiten. Und den Mond rechts oben in der Ecke kann man je nach Lust und Werwolflaune so einschalten, dass er neu, voll, zunehmend oder abnehmend ist.

Doch am liebsten habe ich diese Fototapete. Die hab ich in einem Fachgeschäft für besonders hässliche Stoffe und Tapeten gekauft. Das ist die schiachste, die ich gefunden hab. Ich würde schätzen, das sind die Blue Mountains in Kanada. Grenzenlose Weitsicht, wolkenloser Himmel, eiskaltes Wasser. Für mich ist das eine optische und mentale Erweiterung unseres doch recht kleinen Wohnschlafzimmers. Eine gekleisterte Trompe-l'OEil-Malerei auf Fotobasis.

Alles in allem ist unsere Wohnung eine Collage aus Versatzstücken des täglichen Lebens. Man sammelt, ordnet und arrangiert, und am Ende schaut alles aus wie ein dickes, geschichtsträchtiges Familienfotoalbum, das niemals fertig ist. Das ist das Schöne daran! Und deshalb schaut bei uns auch vieles aus wie auf einer Baustelle. Auf den gelben Doka-Platten sind noch Bleistiftstriche und Zahlen zu sehen. Ich liebe dieses Prozesshafte, diese Gebrauchsspuren, dieses programmatische Zertrümmern von Klischees.

Die grüne Schultafel im Wohnzimmer schaut jeden Tag anders aus. Das ist eine Trennwand, die ich mit ganz normalem Tafellack lackiert hab. Einerseits ist das die kreative Austobungsfläche unserer Kinder, andererseits kann ich mir da mit der Kreide draufschreiben, wo ich den Wohnungsschlüssel wieder hingelegt hab. Der einzige Nachteil an unserem zusammenhängenden Wohnkochschlafzimmer ist die Akustik. Wer auch immer als Erster aufsteht und Kaffee macht, nimmt die lärmende Kaffeemaschine ins Bad mit, damit der andere ungestört weiterschlafen kann. Die Logistik funktioniert perfekt." (DER STANDARD, 17.5.2014)