Nil Yalters Reiseaufzeichnungen

Foto: Cremer

Wien – Agentinnen im Nerz, Könige auf der Flucht und indische Maharadschas beschwor der Spiegel 1948, um die Atmosphäre im Orient-Express zu umreißen. Die Blütezeit der legendären Eisenbahnverbindung zwischen Paris und Istanbul war da bereits vorüber. Politische und technologische Umbrüche setzten dem "König der Züge" zu, der 1883 zur Jungfernfahrt aufgebrochen war.

Ein "Palast auf Rädern" ist in den Bildern von Nil Yalters Installation Orient Express, die derzeit in der Galerie Hubert Winter zu sehen ist, deshalb kaum zu erkennen. Die in Paris lebende, 1938 in Kairo geborene und in der Türkei aufgewachsene Künstlerin machte 1976 eine der letzten Fahrten mit, bevor die Strecke in ihrer alten Form eingestellt wurde. Sie war zu dieser Zeit eine wichtige Gastarbeiterachse. Ihre Reise dokumentierte Yalter mit Fotos, Zeichnungen und einem Film.

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"Der Orient-Express ist kein Vergnügen", heißt es unter einer Serie von Polaroids, die Ausblicke aus dem Fenster zeigen. Die Zeichnungen, die Yalter auf kariertem Papier anfertigte, wirken daher ein bisschen wie das Ergebnis von Versuchen, sich von der Monotonie der Zugfahrt abzulenken. "Ich zeichne meine Uhr. 57 Stunden sind lang", steht unter dem Bild einer Armbanduhr.

Yalters Zeichnungen konzentrieren sich auf Gegenstände. Ein Lederriemen ist detailliert ausgearbeitet. Menschen haben vor allem im Film und auf Fotos ihren Platz. Eine Serie zeigt einen Mann, der mit einem Musikabspielgerät am Fenster steht und "Lieder aus seinem Land" hört.

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Die Arbeiten Yalters, die bereits zum zweiten Mal bei Winter zu sehen ist, vermitteln zwischen Dokumentation und Comic: Für Paris Ville Lumière hat sie 20 Pariser Arrondissements in Schwarz-Weiß-Tableaus gefasst. Das kulturkritische Potenzial Yalters wird in der Serie Neuenkirchen am deutlichsten. In dem deutschen Ort dokumentierte sie 1975 als "Fremde" ein Schützenfest. Den ethnologischen Blick betrachtet sie dabei ebenso kritisch wie ihren Untersuchungsgegenstand. (Roman Gerold, DER STANDARD, 15.5.2014)

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