Graz - Siegfried Nagl ist ziemlich sauer. Er wehre sich gegen Vorwürfe, die Stadtpolitiker hätten dieses schwarze Kapitel des NS-Lagers im Grazer Bezirk Liebenau bewusst ausgeblendet, lässt Bürgermeister Nagl ausrichten.

Der Grazer Arzt Rainer Possert, der in Liebenau ordiniert, hatte die Stadtpolitiker anhand jetzt aufgetauchter Luftbildaufnahmen aus dem Jahr 1945, auf denen zahlreiche aufgefüllte Bombentrichter zu sehen sind, darauf hingewiesen, dass womöglich noch hunderte NS-Opfer auf dem alten Lagerareal verscharrt sein könnten. Einige davon unter einem städtischen Kindergarten. 1945 waren hier in Liebenau tausende ungarische Juden auf ihrem Todesmarsch nach Mauthausen zwischenzeitlich inhaftiert worden. Nach dem Krieg wurden Dutzende Leichen exhumiert.

Neben den Luftaufnahmen gebe es auch Hinweise aus der Bevölkerung, von seinen Patienten, sowie historische Quellen, sagt Possert, dass wesentlich mehr jüdische Lagerhäftlinge verscharrt wurden, als bisher angenommen. Man solle die Hinweise zumindest prüfen, verlangt der Mediziner. Dieser Meinung schloss sich auch ÖVP-Bezirksvorsteher Karl Christian Kvas und SPÖ-Vizebürgermeisterin Martina Schröck an.

Publikation über Lager

"Wir wollen uns bei unserer Beurteilung nicht auf irgendwelche Aussagen von Patienten stützen. Man kann ja leicht Behauptungen aufstellen", heißt es aus dem Bürgermeisterbüro. Auch sei ein Arzt nicht kompetent genug, eine historische Expertise abzugeben. Solange nichts essentiell Neues vorliege, gebe es für die Stadt keinen Handlungsbedarf.

Der Bürgermeister habe sich sehr wohl bemüht, die Geschichte aufzuarbeiten und die Arbeit einer Forscherin unterstützt. Tatsächlich hatte die Historikerin Barbara Stelzl-Marx 2013 eine Publikation über dieses Lager - übrigens die erste Arbeit zum Thema seit 1945 - veröffentlicht.

Anlass war das geplante Murkraftwerksprojekt - das momentan auf Eis liegt. Stelzl-Marx hatte im Zuge der Proteste gegen das Bauvorhaben daran erinnert, dass sich hier im geplanten Kraftwerksareal das ehemalige NS-Lager befunden habe. Sie wurde mit Erhebungen beauftragt. Fazit: kein Problem für das Stauprojekt.

Die neuen Luftbilder seien von geringer Bedeutung. "Wenn nicht neue substanzielle Quellen auftauchen, halte ich die historische Aufarbeitung des Lagers für abgeschlossen", sagt Stelzl-Marx. (Walter Müller, DER STANDARD, 8.5.2014)