Foto: Ch. Tafeit
Foto: Ch. Tafeit

Graz - Es sind entspannende Minuten, in denen ich im Mathematik-Tutorium in der ersten Reihe des Hörsaals sitze und den Vortragenden beobachte, wie er hastig mit weißer Kreide allerlei Arithmetik auf die Tafel zaubert. Während meine Mitstudentinnen und Mitstudenten hektisch ihre Schreibblöcke füllen, zwinkere ich einige Male und habe die Rechengänge in prächtiger HD-Qualität im Kasten. Detaillierte Erklärungen zu speziellen Nachfragen landen als Audiodatei in meiner Google Cloud, sodass ich sie in Ruhe zu Hause nachhören kann.

All das habe ich der Datenbrille Google Glass zu verdanken. Der Miniaturcomputer ist auf einem Brillenrahmen montiert und blendet Informationen in mein Sichtfeld ein. Die mit der integrierten Digitalkamera aufgenommenen Bilder werden kombiniert mit Infos aus dem Internet. Durch den Sprachbefehl "Okay Glass, Google" können die Dienste abgerufen werden.

Italienisch-Übersetzer statt selber lernen

Schleichend ist dieses laufende Hantieren mit Informationen vor meinen Augen zur Normalität geworden. Und je länger ich die Datenbrille trage - an der Uni und in der Freizeit -, desto klarer werden mir die faktischen Auswirkungen der neuen Informationsgesellschaft. Etwa das allseits bekannte Auswendiglernen von Skripten erscheint noch sinnloser, wenn ich mir mit einem simplen "Okay Glass, Google ..." die neuesten Informationshappen in das Datenprisma hole. Auch meine anfängliche Motivation, im Sommersemester an der Uni einen Italienischkurs zu belegen, hat sich zerschlagen: Die Datenbrille beherbergt einen Übersetzer.

Man bekommt durch das Prisma zwar nicht mehr Informationen als am Smartphone - bedingt durch die Displayauflösung von 640 mal 480 Pixel eher weniger - aber diese dafür punktgenau präsentiert. Durch das Aufsetzen der Brille wird man schnell dazu verleitet, viele Dinge als obsolet anzusehen: Wer braucht eine Armee von hochqualifizierten IT-Supporttechnikern vor Ort, wenn man sich über den Videostream in das Blickfeld des Anwenders schalten kann? Wozu sollte man einen Fremdenführer bezahlen, wenn man durch die Brille zielsicher zu den schönsten Sehenswürdigkeiten navigiert wird? Audiokommentare und Restauranttipps inklusive - zumindest solange die WLAN-Verbindung stabil bleibt.

Solche Fragen nähren natürlich auch die Kritik. Doch negative Kommentare gab es nur wenige: Zu lässig, zu intuitiv und hilfreich wirke die Integration in den Alltag. Meine Mitstudenten sind begeistert und haben einige Ideen für den Studienalltag mit Brille. Ganz oben am Wunschzettel: In langweiligen Vorlesungen unbemerkt die neueste Staffel Game of Thrones schauen.

Zukunft ohne Listenkriege

In Prüfungssituationen dürfte die Datenbrille viele Tests ad absurdum führen und daher mehrheitlich verboten bleiben. Doch auch für Professoren kann die Brille Vorteile bringen. Unterstützt durch eine Gesichtserkennung würden Anwesenheitskontrollen nicht länger im chaotischen Listenkrieg enden. Ein Blick des Vortragenden mit aufgesetzter Brille in den Hörsaal genügt. Bei mündlichen Prüfungen würden Mitarbeitsnoten direkt einzelnen Studierenden in der Datenbank zugeordnet, Antworten aufgezeichnet und archiviert werden.

Zwar gleicht die aktuelle Version noch einem Smartphone ohne Apps. Getrieben von einer Goldgräberstimmung der Softwareentwickler wird die Applikationsfülle in den nächsten Monaten aber rasant steigen - und die Datenbrille in wenigen Jahren selbstverständlicher Teil des studentischen Alltags sein. (Christopher Tafeit, DER STANDARD, 8.5.2014)