Die Politiker von Graz tragen den Titel "Stadt der Menschenrechte" seit Jahren stolz vor sich her. Hinter der Fassade der politischen Anständigkeit tun sich aber tiefe Gräben auf. Es mehren sich die Hinweise, dass die Stadtregierungen der vergangenen Jahrzehnte bewusst ein schwarzes Kapitel der Stadtgeschichte ausgeblendet haben. Ob rote, schwarze oder blaue Bürgermeister: Sie wollten mit dem Holocaust vor der eigenen Haustüre offenbar nichts zu tun haben.

Im Vorjahr hatte eine junge Historikerin in einer Publikation erstmals Hinweise auf das NS-Lager im Grazer Bezirk Liebenau geliefert. Tausende ungarische Juden waren hier inhaftiert, ehe sie auf den Todesmarsch nach Mauthausen weitergetrieben wurden. Ein Grazer Arzt, der seit Jahren zahlreichen Hinweisen aus der Bevölkerung nachgeht - und dabei immer wieder das Desinteresse der Stadtpolitiker beklagt -, hat jetzt Dokumente von historischen Luftaufnahmen vorgelegt, die Massengräber vermuten lassen. Einige Opfer könnten noch unter einem Kindergarten verscharrt liegen.

Bevor die Stadtregierung nicht endlich erklärt, warum über Liebenau seit Jahrzehnten ein Mantel des Schweigens liegt, und solange sie nicht offizielle Untersuchungen zur Aufklärung in die Wege leitet, sollte die europäische Auszeichnung der "Stadt der Menschrechte" jedenfalls in eine Schublade der Stadt weggesperrt werden. (Walter Müller, DER STANDARD, 3.5.2014)