Die Politiker und die Intellektuellen der drei früheren baltischen Sowjetrepubliken - Estland, Lettland und Litauen - haben vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine bedeutende Rolle der Avantgarde gespielt. Manche Staats- oder Regierungschefs haben glänzende Karrieren in den Vereinigten Staaten oder Kanada aufgegeben, um in ihren nach einem halben Jahrhundert sowjetischer Herrschaft frei gewordenen Heimatländern beim Neubeginn mitzuhelfen.

Das hat viel zum schnellen Wirtschaftsaufstieg seit 1991 beigetragen. Es kamen inzwischen auch junge Politiker und Ökonomen zum Zug, wie zum Beispiel der vor kurzem zurückgetretene lettische Ministerpräsident Valdis Dombrovskis, der die Weichen für den Anfang 2014 vollzogenen Beitritt zur Eurozone gestellt hat. Seine Rede über die erfolgreiche schnelle Stabilisierung der lettischen Wirtschaft hinterließ beim Europaforum Wachau im Vorjahr einen starken Eindruck.

Das kleine Estland (rund 1,3 Millionen Einwohner) hatte allerdings schon Anfang 2011 den Beitritt zur Eurozone geschafft. Überhaupt waren die Esten - trotz der Probleme mit der russischen Minderheit, die durch eine massive Siedlungspolitik während der Sowjetzeit bereits ein Viertel der Bevölkerung ausmacht - stets die Schrittmacher bei der Öffnung nach dem Westen. Der herausragende Intellektuelle und langjährige Staatspräsident Lennart Meri übte weit über die Grenzen des kleinen Landes hinaus großen Einfluss auch als ein profunder Kenner Russlands aus. Unvergesslich war für die Teilnehmer einer vom Bergedorfer Gesprächskreis organisierten Tagung in Tallinn bereits in den frühen Neunzigerjahren die weitblickende Haltung Meris gegenüber den Aufgaben des jungen unabhängigen Staates.

In Estland wie auch in Lettland (der Anteil der Letten beträgt nur 62 Prozent der Bevölkerung) ist das Verhältnis zu der unter der Sowjetherrschaft dominierenden russischen Minderheit und in der Folge auch zu Russland in den letzten zwei Jahrzehnten nicht friktionsfrei geblieben. Es ging dabei nur vordergründig um die Beherrschung der Landessprache der Mehrheitsnation als Vorbedingung für die Staatsbürgerschaft. Dass die drei baltischen Staaten 2004 in die Nato und in die Europäische Union aufgenommen wurden, war eine Entscheidung, deren Tragweite auch von manchen Kritikern vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise begriffen wird.

Der langjährige Staatschef Estlands, Toomas Hendrik Ilves, warnte kürzlich mit seltener Offenheit seine westlichen Kollegen: "Das Grundverständnis von der europäischen Sicherheit ist zusammengebrochen. Alles, was seit 1989 passierte, ging von der fundamentalen Annahme aus, dass die Grenzen nicht mehr mit Gewalt geändert würden. Das ist nun vorbei. Die führenden Politiker müssen erkennen, dass die alten Regeln nicht mehr gelten!" (Paul Lendvai, DER STANDARD, 29.4.2014)