Der Drachen, der für Ordnung sorgt: Tilda Swinton ist in "Snowpiercer" als Aufseherin kaum wiederzuerkennen. 

Foto: thimfilm

Wien - Draußen herrscht ewige Eiszeit. Alles Leben wurde ausgelöscht. Die letzten Menschen fahren Zug, ohne Halt rast der Koloss über die Erdkugel, mühelos durchbricht er Hürden. Im Inneren wird die Klassengesellschaft horizontal ausgelegt; die Ärmsten sind in den letzten Waggons eingepfercht, wo sie ohne Licht und nur mit bräunlichem Proteinpudding als Nahrung dahindarben. Je weiter man jedoch zur Spitze des Zuges vordringt, desto vornehmer und dekadenter wird das Service, selbst Sushi wird gereicht.

Der Name des Zuges ist auch Titel dieses so intelligenten wie überraschungsreichen Science-Fiction-Dramas von Bong Joon-ho: Snowpiercer. Bereits der Produktionshintergrund des Films zeigt auf, dass für diesen Wurf diverse kulturelle Talente zusammenfanden. Die Vorlage stammt von den Franzosen Jacques Lob und Jean-Marc Rochette, die ihre postapokalyptische Graphic Novel bereits 1982 schufen - später kamen zwei Teile hinzu (erschienen im Jacoby & Stuart-Verlag). Der Koreaner Bong hat es für sich neu entdeckt und daraus seine erste internationale Arbeit gefiltert: Nur die zentrale Bewegung des Comics, ein Aufstand im Zug gegen den Status quo, dem zugleich eine metaphysische Komponente zukommt, blieb erhalten. Viele verblüffende Manöver, die den Film zu etwas viel Eigenständigerem als einer Adaption machen, wurden ergänzt.

Bong, der nach dem hintersinnigen Serienmörderthriller Memories of a Murder im Westen mit dem Monsterfilm The Host bekannt wurde, beweist, dass verschwenderisches Unterhaltungskino mit Raffinesse möglich ist, wenn man entsprechend ausgeklügelt zu inszenieren versteht. Die Rebellion der untersten Klasse führt ein Mann namens Curtis (Chris Evans) an - beratschlagt von Mentor Gilliam (John Hurt). Bong setzt sie nicht nur als politische Parabel um, in der linke Befreiungsideen widerhallen. Er nutzt die Geschichte auch, um sich eine fremde Welt anzuverwandeln, in der Nachteile, auch der Horror der untergegangenen konserviert sind.

Grausliche Entdeckungen

Science-Fiction schöpft erst mit solcher Vorstellungskraft ihr wahres Potenzial aus: Der Zug, ein sich selbst erhaltendes ökologisches System, bietet einiges zum Staunen an - Pflanzen und Tiere, aber auch Sauna, Bars, Großküchen und grausliche Entdeckungen. Die Actionszenen sind nicht als Highlights einzelner Akte entworfen, sondern überzeugen als genuine Teilstücke mit visueller Kraft. Äußere Umstände, wie das Dunkel eines Tunnels, werden effektvoll mitberücksichtigt.

Bong nutzt Tempowechsel, er schätzt auch retardierende Momente, in denen sich Figuren ihren Motivationen, ja Seinsfragen stellen. US-Produzent Harvey Weinstein, der die Rechte für den US-Markt erworben hat, wollte Snowpiercer prompt kürzen lassen. Das Scharmützel, das Bong übrigens für sich entschieden hat, zeigt, wie wenig man an manchen Stellen Abweichungen von - westlichen - Sehgewohnheiten zu tolerieren bereit ist.

Dabei bedient Snowpiercer geschickt diverse Zuschauerschaften. Das manifestiert sich schon an der internationalen Darstellerriege, aus der Tilda Swinton als Aufseherin mit dem galligen Charme einer Stasi-Mitarbeiterin oder Bong-Dauergast Song Kang-ho herausragen: Mit Witz spielt er einen drogenbenebelten Gefährten von Curtis - er kennt technische Details des Zuges, der wie ein Gott verehrt wird.

Snowpiercer arbeitet mit kulturellen Besonderheiten ebenso raffiniert wie mit (Pop-)Mythen. Und wenn Ed Harris am Ende auftaucht, der schon in The Truman Show einen bevorzugten Platz einnahm, sollte man auf ein weiteres Gleichnis vorbereitet sein. Nicht jede Fahrt endet an einer Haltestelle. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 26.4.2014)