Gül Özcan arbeitet im Schichtbetrieb.

Foto: Der Standard/Christian Grass

Hohenems - Gül Özcan kommt zum Interview in die Autobahnraststätte. Den anonymen Ort hat sie gewählt, "weil wir dort ungestört sind". Über ihre Arbeit erzähle sie gerne, "aber nichts über die Firma, da könnte ich was falsch machen und das will ich nicht."

Frau Özcan trägt Jeans, einen karierten Blazer, Stiefeletten und ein Halstuch. Dezentes Make-up, modischer Schmuck, das dunkle Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden - eine attraktive Mittelstandsfrau. Dass sie acht Stunden Schichtarbeit hinter sich hat, würde man nicht vermuten. Die 45-jährige Hohenemserin wirkt entspannt. "Ich mach' meine Arbeit gerne", sagt sie. Einfacher sei es die letzten Jahre aber nicht geworden, "du merkst halt, dass du älter wirst. Der Körper macht nicht mehr alles mit." Wegen der angegriffenen Bandscheiben war sie, erstmals in 30 Arbeitsjahren, gerade auf Kur.

Gül Özcan arbeitet bei Tridonic in Dornbirn, dort werden innovative Lichtsysteme produziert. Seit ihrem 15. Lebensjahr ist die Österreicherin mit türkischen Wurzeln Hilfsarbeiterin. Angefangen hat sie in einem Textilunternehmen, bei dem auch die Eltern gearbeitet haben, 1999 wechselte sie in die Elektrobranche. "Ich fühle mich bei Tridonic sehr wohl und möchte noch lange bleiben", sagt Gül Özcan.

600 Menschen arbeiten am Stammsitz der Zumtobel-Tochter Tridonic, 170 davon sind Arbeiter und Arbeiterinnen, über die Hälfte von ihnen mit Migrationshintergrund. Özcans Aufgabe ist die Bauteilevorbereitung. Mit einem Kollegen richtet sie die Elektronikbauteile für die Bestückung, die Befestigung auf Leiterplatten, her.

Die Schichten dauern von sechs bis 14 und von 14 bis 22 Uhr, wöchentlich wird gewechselt: "Eine Woche ausschlafen, eine Woche am Abend arbeiten, das passt." Die Arbeitswoche hat 38,7 Stunden. Als die Kinder, heute 23 und 18 Jahre alt, noch zu betreuen waren, hat sie mit ihrem Mann in Gegenschicht gearbeitet. Gemeinsame Zeit kannte das Ehepaar nur am Wochenende.

Schichtarbeit heißt Durcharbeiten. Die Pausen sind kurz: zweimal sechs Minuten, einmal 15 Minuten. Dafür sei die Entlohnung besser, sagt Gül Özcan. Wie hoch die ist, will sie nicht sagen. Die Begründung könnte vorarlbergischer nicht sein: "Über da Zahltag red' ma nit."

Die Löhne in der Elektro- und Elektronikindustrie sind gut. Nach zehn Jahren kann eine ungelernte Kraft auf über 2000 Euro brutto kommen. Der Kollektivvertrag sieht für Hilfsarbeiter mit geringster Qualifikation zum Einstieg 1618 Euro vor. Ab 1. Mai sind es 1659 Euro.

Für Gül Özcan, seit eineinhalb Jahren Betriebsrätin der unabhängigen Liste Gemeinsam, hat der 1. Mai nur theoretische Bedeutung: "Der Tag der Arbeiter, an die sollte die Politik öfter denken." Beispielsweise, wenn es um das Pensionsalter geht. "Wenn ich bis 65 arbeiten muss, hab ich 50 Jahre Schichtarbeit gemacht." Es solle ihr jemand erklären, wie man so lange körperlich arbeiten und dann gesund in Pension gehen könne.

Und eine weitere Frage beschäftigt sie: "Wo fängt Integration an, und bitte, wo hat sie ihre Grenzen?" Gül Özcan kam mit acht Jahren nach Österreich, ihre Eltern waren schon fünf Jahre hier, holten die beiden Töchter nach. "Meine Kinder können Deutsch, haben Matura", sagt Frau Özcan, "wir arbeiten, haben ein Haus gebaut, ich koche österreichisch. Ich kann Deutsch, bin modern, aber es ist nie genug. Wir haben alles gemacht, was möglich ist, aber einigen reicht das nicht." Verständnis und Toleranz hätte sie gerne, "ich möchte meine Muttersprache behalten, aber meine Religion und Kultur nicht aufgeben müssen."

Am 1. Mai wird Gül Özcan in Wien sein. Nicht beim Maiaufmarsch, sondern bei einer türkischen Hochzeit. (Jutta Berger, DER STANDARD, 25.4.2014)