Christian Fennesz bringt das Wiengefühl auf den Punkt: "Was schaust denn so deppert?!"

Foto: lorenzo castore

Der Albumtitel verdankt sich einer simplen Tatsache, in die man nichts hineininterpretieren muss. Da Christian Fennesz sein neues Album in Wien aufgenommen hat, nennt er es Wien. Allerdings wird der ungarische Name Bécs verwendet. Erstens ist das coole Vienna zu sehr mit alten Arbeiten von Ringo Starr (Goodnight Vienna) oder Ultravox (Vienna) assoziiert. Zweitens weist der nunmehrige Albumtitel Bécs auf die ungarischen Wurzeln des vom Neusiedlersee stammenden Musikers hin. Mehrere Jahre lebte der heute 51-jährige Gitarrist und frühe Laptop-Pionier in Paris (die Liebe) oder im Flugzeug (die Arbeit). Inzwischen fühlt er sich in Wien (die Liebe) "eigentlich wieder sehr wohl, obwohl Wien etwas Böses drin hat. Die grantigen Leute auf der Straße. Was schaust denn so deppert?! Das ist Wien."

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Bécs ist nach Jahren, in denen er international als Aushängeschild der einst in den 1990er-Jahre gehypten Wiener Elektronikszene herumgereicht wurde, nicht nur eine Rückkehr zu den geografischen Wurzeln - obwohl sein Arbeitsschwerpunkt zu geschätzten 99 Prozent nach wie vor dort liegt, wohin man ein Flugzeug und nicht die Zweier-Linie am Wiener Ring nimmt (Die letzten Wochenenden war Fennesz auf Klang-Montage in London, Barcelona, Moskau und Istanbul). Das erste Mal seit dem 2001 veröffentlichten Klassiker Endless Summer, der damals weltweit mit seiner melancholischen wie avantgardistischen Hommage an die Musik der Beach Boys und den Herzschmerz in digitalen Welten für Furore sorgte, veröffentlicht Christian Fennesz auch wieder auf dem Wiener Mego-Label.

Im Gegensatz zu aktuell ruhigeren und zart ins Esoterische kippenden Kollaborationen mit Musikern wie dem japanischen Superstar Ryuichi Sakamoto oder dem britischen Sänger David Sylvain steht nun auch wieder der neu entdeckte Wiener Grant im Vordergrund. Die Stromgitarre, die Fennesz seit eh und je souverän im Computer oft bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und damit in der Welt der musikalischen Heimelektronik eine von zahllosen Nachahmern gestürmte Schule begründete, schreit jetzt aus jedem zweiten Stück auf Bécs: "Was schaust denn so deppert?!" Immerhin spielte Christian Fennesz in grauer Vorzeit nicht nur in einer burgenländischen Tanzmusik - weshalb man noch heute gut mit ihm Erfrischungsgetränke nehmen kann. Fennesz würgte einst auch die Gitarre im Trio Maische, das vor gut einem Vierteljahrhundert die Grenzen zwischen Gitarrenrock, Jazz und Improvisation pulverisierte.

Die anderen, in Sessions im eigenen Studio im nicht so schicken Teil von Wien-Neubau erarbeiteten und edierten Stücken schreien aber ganz leise auch: Tony Stricker, pannonische Tiefebene, haltloser Kitsch, Schwelgen auf Bratlgeigen.

Christian Fennesz: "Es ist teilweise kitschig, im Hintergrund aber grantelt jemand, ja." Den Satz, dass sich am Wirtshaustisch die lauteste Stimme an ihre Vernunftbegabung zu erinnern versucht, das Gute, Wahre und Schöne predigt und darüber selbstergriffen ein wenig ins Altmännerheulen gerät, während die restlichen Stammtischbrüder mit verzerrter und kreischender Stimme mit Lokalkolorit wie Ausländerfeindlichkeit, Selbsthass und Minderwertigkeitsgefühlen ein wenig für ungute Stimmung sorgen, lässt Fennesz vollinhaltlich so stehen. Dazu ein wenig Klischees aus der Puszta, gegrilltes rotes Fleisch und ein wenig vom Scharfgebrannten.

Christian Fennesz: "Nach Sounddesign-Alben wie Black Sea wollte ich wieder einfacher werden. Die meisten Stücke sind nicht nachbehandelt, Fehler wurden stehengelassen. Wenn man ganz viele Anführungszeichen verwendet, kann man sagen, dass es ein Rockalbum geworden ist. Ich habe das Album hingeschissen. Das hat aber sehr lange gedauert. Ha, ha. Wenn man genau hinhört, wird man aber merken, dass gewisse Dinge sehr ausgefuchst sind." Der kleine Finger will jubilieren, der Künstler nicht? Fennesz: "Ja." (Christian Schachinger, Rondo, DER STANDARD, 25.4.2014)