Rufus Collins und Naomi Levine in Warhols Film "Kiss" (1963) und ...

Foto: The Andy Warhol Museum, Pittsburgh

... ein Kuss, der streng genommen keiner ist: Gustav Klimt hat in "Kuss" von 1908 den Moment davor verewigt.

Foto: Belvedere

Wien - Wann ist ein Kuss ein Kuss? fragte Die Zeit anlässlich des viralen Youtube-Erfolgs First Kiss: 20 Fremde hatten sich in dem Dreieinhalbminüter von Tatia Pilieva geküsst - so richtig mit Zunge. Binnen 20 Stunden hatte es das Filmchen Anfang März auf beachtliche 20 Millionen Klicks gebracht - inzwischen sind es fast 80 Millionen. Als sich jedoch herausstellte, dass die meisten Fremdknutscher Schauspieler sind, und das Lippenbekenntnis kein Kunststück, sondern ein Werbeclip ist, war die Frühlingsluft draußen. Authentizität als Kusskriterium?

Beim Weltrekordküssen spielt das keine Rolle. Dank flächendeckender Kameraversorgung und Videoportalen ist auch dieser leidenschaftslose Bewerb - aktueller, thailändischer Rekord: 58 Stunden - dokumentiert. Das Dauerküssen ähnelt eher einem Unfall mit Sekundenkleber.

Kiss von Andy Warhol ist zwar zweifelsfrei ein nicht kommerzielles, sondern rein künstlerisches Video - und dabei auch eines der ersten -, aber selbst Warhol ging es 1963 nicht um die Wahrhaftigkeit der porträtierten Küsse. In dem gut 50 Jahre alten Klassiker der Filmkunst zeigte er Männer, die Frauen küssen, Männer, die Männer küssen, sofort und ohne Umschweife, zart oder intensiv, lachend und einander schier auffressend: Küssen ist wie Essen ohne Nahrung. Das hat zumindest der britische Psychoanalytiker Adam Phillips einmal gesagt.

Warhol ignoriert jede Peinlichkeit der Annäherung, eckige Umarmungen, scheue Blicke - all das interessiert ihn nicht. Geküsst wird von den Schauspielern, Schriftstellern, Künstlern - darunter Gerard Malanga, Rufus Collins, Robert Indiana und Marisol - jeweils so lang wie eine 16-mm-Filmspule mit 30 Metern Material. So hatte Warhol es bereits bei seinen ebenso experimentellen Screen Tests (1964-66) gehalten, bei denen sich die Darsteller nichts als dem klaffenden Objektiv der Kamera stellen mussten.

Rund drei Minuten also. Und in diesen drei Minuten darf man schon eine Anspielung auf jene magischen drei Sekunden erkennen, auf die die Zensoren des Hayes Office Lippenberührungen in Hollywood-Produktionen beschränkt hatten. Auch Greta Garbos Stummfilm Der Kuss könnte eine Referenz gewesen sein.

Später wurde aus den zwölf einzelnen Schmusereien ein rund 55 Minuten langer Film kompiliert. Ein tonloses, allein durch Weißblenden strukturiertes Dokument einer sexuell-revolutionierten Zeit, dessen Sinnlichkeit und Erotik besticht, falls man sich in voller Länge darauf einlässt.

Das Sich-Einlassen ist so ein Punkt: Im Belvedere, wo man Kiss und Klimts Kuss derzeit im Dialog präsentiert, wird das mangels Sitzgelegenheit schwer möglich sein. Gustav Klimt hat hingegen den Moment des Begehrens - und die Frau dazu - in Gold gepackt. Eine Überhöhung, die an jeder Realität zerbricht. Aber die Ströme japanischer Touristen geben eher dem Traum Recht. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 23.4.2014)