Umgeben von Idolen: Henri Langlois mit Roberto Rossellini (li.) und Jean Renoir, 1960.

Foto: Man Ray Trust

Paris - 1974 wurde ihm ein Ehren-Oscar verliehen. Man muss sich das nur einmal vorstellen: Jemand bekommt in Hollywood einen Preis dafür, dass er in Frankreich Filme sammelt. Aber selten war ein Ehren-Oscar so verdient wie der, den Henri Langlois drei Jahre vor seinem Tod erhielt. Der Gründer der Cinémathèque française hat nicht nur versucht, das Filmerbe zu retten und es damit in den Rang einer gleichberechtigten Kunst erhoben. Er hat sein Haus zur spirituellen Heimat für Filmemacher aus aller Welt gemacht, ein Pantheon errichtet, in dem das Kino keine Industrie, sondern ein Terrain der Cinéphilie ist.

Wie sehr sich Regisseure in seiner Schuld fühlen, zeigt allein schon die Liste der Namen des Ehrenkomitees, das die Pariser Cinémathèque zur Feier seines 100. Geburtstages einberufen hat. Es versammelt den Adel des Weltkinos, von Woody Allen und Olivier Assayas bis zu Agnès Varda und Apitchatpong Weerasethul. Zum Auftakt des Jubiläums widmet die Kinemathek dem "begabtesten aller Filmliebhaber" (François Truffaut) eine exquisite Ausstellung. Dominique Paini, zwischen 1993 und 2000 einer der Nachfolger Langlois', hat sie kuratiert.

Es wäre naiv zu erwarten, aus diesem Anlass keine Hagiographie zu erwarten. Sie spiegelt lebhaft Langlois' Temperament. Er war nicht nur ein verschlagener Schatzwächter, sondern vor allem ein charismatischer Vermittler, der die Sehnsucht nach Entdeckungen schürte. Paini feiert ihn als Strategen des Chaos. Ein von Langlois gezeichnetes Organigramm stellt seine Institution als ein Kraftzentrum vor, das in alle Richtungen ausgreift. Im Zweifelsfalle überliefert Paini lieber die Legende. Dafür, dass das erste Filmlager tatsächlich die Badewanne von Langlois' Mutter war, liefert die Schau den fotografischen Beweis. Sie umgibt das Bild mit lauter berühmten Badeszenen aus der Filmgeschichte.

Der Leiter der Cinémathèque hatte eine magische Vorstellung von der Konservierung: Für ihn waren Filme gerettet, sobald eine Kopie in seinem Haus eintraf. Er verglich sie gern mit einem Perserteppich, den man pflegt, in dem man auf ihm herumgeht. Paini legitimiert diese Philosophie: Der erste Akt der Konservierung ist es, die Filme zu zeigen, denn nur so bleiben sie im Gedächtnis.

Langlois erhob die Programmgestaltung zu einer Kunst. Die drei Vorstellungen, die allabendlich zu sehen waren, stellte er mit assoziativer Fantasie zusammen. Stets suchte er die unterschwellige Verbindung zwischen Filmen unterschiedlicher Herkunft. Oft war sie poetisch, manchmal imaginär. Wie vorurteilslos dieser "Vorführer der Schatten" vorging, führt bereits die Collage Donne-moi tes yeux von Henri Foucault vor, welche die Vorspanntitel hunderter Filme nebeneinanderstellt (einige von ihnen sind erfunden), ohne dabei eine Hierarchie zu etablieren.

Verspätet um 100 Jahre

Langlois' Biografie wird ausführlich rekapituliert. Er wurde im türkischen Smyrna (heute Izmir) geboren, als Sohn expatriierter Franzosen, was ihm gestattete, sich "gleich von Anfang an um ein Jahrhundert zu verspäten". Die Schau versammelt die entscheidenden Lebensbegegnungen - mit dem späteren Regisseur Georges Franju, dem Mitbegründer; mit Mary Meerson, der Schwester des berühmten Szenenbildners Lazare Meerson und mit der Filmkritikerin Lotte Eisner, die beide zu seinen wichtigsten Mitstreiterinnen wurden. Die Affäre um seine Absetzung 1968 durch den damaligen Kulturminister André Malraux, die einer der Auslöser des Pariser Mai wurde, weil Filmemacher aus aller Herren Ländern dagegen demonstrierten, spielt eine erstaunlich geringe Rolle. Die Schau respektiert Langlois' Liebe zum Fetisch, zum konkret greifbaren Indiz der Filmgeschichte. Eines der bewegendsten Exponate ist ein Notizzettel, auf dem ein Kellner des Café de Flore den Regisseur Marcel Carné über den Tod Langlois' unterrichtet.

Paini spannt einen weiten Bogen. Eigentlich war die Schaffung einer Kinemathek nur ein zweitrangiges Projekt, wichtiger war für Langlois ein Museum des Kinos. Die Schau erinnert an die bahnbrechenden Ausstellungen, die er organisierte. Er schätze das Kino als eine plastische Kunst, war ein großer Fürsprecher der Avantgarde, die sich aus den Fesseln des Narrativen befreite. Sein ursprünglicher Wunsch war es, bildender Künstler zu werden. Er pflegte intensiven Umgang mit den Künstlern seiner Zeit, mit Braque, Calder, Chagall; über Matisse wollte er einen Film drehen.

Diese Zwiesprache setzt die Ausstellung bis in die Gegenwart fort. Paini hat zeitgenössische Künstler beauftragt, die Gestalt neu zu interpretieren. So kann man Langlois' Antlitz als Puzzle sehen, ihn wie Woody Allens Zelig bei illustren Begegnungen entdecken und als Monstrum bewundern, das vergnügt auf Filmkopien thront. Wie hat ihn Jean Cocteau einmal genannt? "Der Drache, der über unsere Schätze wacht." (Gerhard Midding, DER STANDARD, 22.4.2014)