Wenn sein Telefon läutet, kann es sein, dass sein Vater Simon Sommerhuber braucht. Er stehe dann vor einer Wahl, die keine ist: "Entweder der Vater schläft im Rollstuhl, oder ich komme und helfe ihm."

Foto: Andy Urban

Wien - Es muss auch ohne ihn gehen. Simon Sommerhuber will nicht mehr gebraucht werden. Der 25-Jährige sagt das ohne Umschweife, ohne dabei auch nur den Blick zu senken. Simon ist mit seinem Vater nie Fußballspielen gegangen oder in die Berge gewandert. Bei seinem Vater zu sein hieß für ihn stets anderes: Es hieß, nach genauen Anweisungen etwas zu kochen. Den Vater aus dem Rollstuhl ins Bett zu hieven - und dem heute 67-Jährigen bei der Körperhygiene zu helfen. Es hieß aber zum Beispiel auch, am Abend länger aufbleiben zu dürfen.

Rund 12.500 Betroffene

Simons Vater lebt seit 20 Jahren mit multipler Sklerose (MS), einer bis heute unheilbaren, chronisch-entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems, von der in Österreich rund 12.500 Menschen betroffen sind. Als typisch gilt ein schubweises Auftreten von Beschwerden über Tage bis Wochen - von Zittrigkeit, Seh- und Sprachstörungen bis zu Lähmungen.

Seit zwölf Jahren ist Simon ein Ersatzpfleger in Notlagen. Einer Studie der Universität Wien zufolge pflegen österreichweit 42.700 Kinder und Jugendliche im Alter von fünf bis 18 Jahren Angehörige. Es ist eine unsichtbare Gruppe. Die jungen Pflegenden sind im Schnitt zwölfeinhalb Jahre jung.

Wechsel zwischen Welten

In etwa so alt war Simon, als er bereits sämtliche Aufgaben übernahm, die bei der Pflege eines Mannes anfallen, der im Rollstuhl sitzt und sich phasenweise kaum bewegen kann. Von Kindheit an lebte er wochenweise abwechselnd bei der Mutter und beim Vater - ein ständiger Wechsel zwischen zwei Welten.

Sein Vater kann sich zwar Betreuungspersonal leisten, doch wenn das Unterstützungsnetz irgendwo reißt, ist es Simon, der es flickt. Es reißt immer wieder. Bis heute - inzwischen aber seltener. "Du stehst dann vor der Wahl: Entweder der Vater schläft im Rollstuhl, oder ich komme und helfe ihm", sagt Simon.

Fluch und Segen

Dieses Gebrauchtwerden ist Fluch und Segen zugleich. "Mit 18 Jahren bin ich sofort ausgezogen", sagt er. Seine erste Wohnung lag in einem anderen Bezirk als jene des Vaters. Die zweite dann doch wieder im gleichen. Die jetzige ist nur ums Eck. "Damit ich schnell dort bin, wenn was ist", sagt Simon. Neben einem Drang nach Freiheit und Abgrenzung spürt Simon eine intensive Nähe zum Vater, ein "Wir-gegen-den-Rest-der-Welt-Gefühl". Und: "Wenn ich sehe, wie er jetzt, mit 67 Jahren noch beruflich aktiv ist und kulturell interessiert, macht mich das auch ein bisschen stolz, dass ich dazu etwas beigetragen habe."

Mit anderen Gleichaltrigen spricht der Wiener kaum über die Situation mit dem Vater. "Mit ein paar Freunden ging das schon, aber ich wollte auch nicht das arme Hascherl sein", sagt er. Er sei eher ein Einzelkämpfer, der zwischen "Arroganz und Selbstmitleid" schwankte. Immer wieder holte er sich auch psychotherapeutische Hilfe.

Physische und mentale Erschöpfung

Die Auswirkungen von Pflegearbeit auf Kinder reichen laut der der Studie des Instituts für Pflegewissenschaft von 2013, "von niemand zum Reden oder keine persönliche Freizeit haben, im Verborgenen und in sozialer Isolation leben bis hin zu psychosozialen Auswirkungen wie Einsamkeit, Traurigkeit, Angst und Scham; oder es kann sich in Form von physischer und mentaler Erschöpfung bemerkbar machen".

Seit kurzem existiert eine Plattform, die jungen Pflegehelfern Rat und Hilfe anbietet: Superhands wurde von den Johannitern gegründet und wird von der Diakonie Österreich unterstützt. Allerdings brauche es für Pflegende im Allgemeinen mehr aufsuchende Beratung, hielt Werner Kerschbaum, Generalsekretär des Roten Kreuzes vergangene Woche bei einer Pressekonferenz fest.

Mit 15 den Großvater gepflegt

Dort erzählte auch Adrienne Pötscher von ihrer Pflegegeschichte: Mit 15 Jahren begann sie, bei der Pflege ihres Großvaters zu helfen. Sie pendelte dafür an den Wochenenden von Wien ins Burgenland. Heute lebt die 23-jährige Buchhändlerin mit ihrer Oma zusammen, um auch sie zu pflegen. Viele junge Helfer ergreifen überhaupt einen sozialen Beruf.

Simon Sommerhuber will seine Pflegetätigkeit und sein Medizinstudium nicht miteinander in Zusammenhang stellen. Er wolle ja nicht der bessere Arzt für seinen Vater werden. Über multiple Sklerose zu lernen habe er kaum gepackt, sagt er. Simon interessiert sich mehr für Kinderheilkunde. Dass er gerne hilft, kann er aber nicht abstreiten: Neben dem Studium arbeitet er freiwillig als Bewährungshelfer bei Neustart und als Sanitäter bei den Johannitern.

"Man kann nicht Nein sagen"

Politische Debatten über das Pflegesystem verfolgt Simon zwar nicht, eine klare Meinung dazu vertritt er aber sehr wohl: "Ein Pflegesystem, das von Kindern abhängt, ist kein funktionierendes System", meint er. "Man kann als Kind nicht Nein sagen, und es ist auch nicht die Aufgabe des Kindes, Nein zu sagen." Doch genauso wenig könne man das von chronisch Kranken erwarten.

Zwei Monate am Stück hatte Simons Vater einmal gar keine Möglichkeit, seinen Sohn zu Hilfe zu rufen: So lange war Simon als Zivildiener in Istanbul. "Als ich danach sah, dass es auch ohne mich gegangen ist, war ich fast beleidigt", schildert er. Inzwischen ist Simon da schon weiter. Es müsse so sein. Wenn er einmal im Spital tätig sein werde, könne er ja auch nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Daher dieses intensive Arbeiten daran, sich abzugrenzen.

Und dennoch: Nachts bleibt Simons Handy eingeschaltet. Immer. "Falls etwas ist." (Gudrun Springer, DER STANDARD, 19.4.2014)