Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Angehöriger der Tawergha-Minderheit im Lager Tariq al-Matar außerhalb von Tripolis.

Foto: AP/Brabo

Am Vortag hat es stark geregnet. Jetzt dringt die Feuchtigkeit durch das Dach und den Fußboden in das winzige Zimmer von Omar Mohammed Ali, seiner Frau und den beiden kleinen Mädchen. Seit September 2011 sind die sechs Quadratmater in einer Baubaracke das Zuhause seiner Familie. Sie haben noch Glück. In andern Zimmern sind bis zu einem Dutzend Personen zusammengepfercht.

Die heruntergekommenen Baubaracken im Schatten von halbfertigen Wohnblocks dienen jetzt als Lager für 1270 Tawergha, die während des Aufstands gegen das Gaddafi-Regime vertrieben wurden. Den Einwohnern der gleichnamigen Stadt, rund 40 Kilometer von Misrata, wird vorgeworfen, sie hätten im Krieg für den Diktator gekämpft und in dieser Zeit auch Übergriffe begangen. Die Tawergha sind dunkelhäutig und ethnische Berber.

Das Fallah-Camp in der Nähe des Souq al-Talat in Tripolis ist eines von vier in der Hauptstadt und vielen weiteren verstreut im ganzen Land. Die Verhältnisse sind überall ähnlich. "Wir leben von Hilfslieferungen. Etwa die Hälfte der Familien hat kein regelmäßiges Einkommen", zeigt Lagervorsteher Ali auf fertig zusammengestellte Lebensmittelrationen aus Spenden. Zu Hause in Tawergha hatten sie ihre Palmgärten oder Jobs in Misrata.

Abwesenheit des Staates

"Den libyschen Staat gibt es hier nicht, vor allem keine Sicherheit. Die Behörden unternehmen nichts zum Schutz vor Racheakten." Das Eisengitter muss abends geschlossen werden. Im November überfielen bewaffnete Milizen aus Misrata das Camp und töteten einen jungen Mann.

Wegen des Pauschalvorwurfes, Gaddafi-Loyalisten zu sein, wurden die Tawergha nicht nur vertrieben. "Mindestens 1200 Männer sind im Gefängnis, ohne Anklage und ohne Prozess", sagt Alis Nachbar. Drei Familienmitglieder von Ali sind auch darunter. "Wir wissen nicht, ob sie von Milizen gefangen gehalten werden oder in Gefängnissen sind, die von der Regierung kontrolliert werden. Wir haben keinen Kontakt", präzisiert der Lagervorsteher.

Heimat systematisch zerstört

Während die Vertriebenen im reichen Libyen weitab von ihrer Heimat in menschenunwürdigen Verhältnissen leben, von denen in den einheimischen Medien möglichst keine Bilder erscheinen sollen, wird ihre Stadt systematisch zerstört. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch dokumentiert diese Entwicklung kontinuierlich mit Satellitenfotos und hat festgestellt, dass nach dem Ende des Krieges Wohnhäuser systematisch angezündet, geplündert und Geschäftsgebäude in den meisten Teilen der Stadt verwüstet wurden, mit dem offensichtlichen Ziel, eine Rückkehr der Bevölkerung zu verhindern.

Die gewaltsame Vertreibung von rund 40.000 Tawergha ebenso wie arbiträre Haft, Folter und Tötungen seien verbreitet, systematisch und ausreichend organisiert, um als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gelten, befindet Human Rights Watch. Den UN-Sicherheitsrat fordert die Menschenrechtsorganisation auf, diese Verbrechen zu verurteilen und den Internationalen Strafgerichtshof, gegen Kommandanten der Milizen von Misrata eine Untersuchung einzuleiten.

Sogar seine kleine Tochter habe auf der Straße den Hass gegen die Tawergha schon zu spüren bekommen, etwas, das es vor der Revolution nie gegeben habe, schildert Ali das Gefühl vom Ausgestoßensein. Hoffnung auf eine Rückkehr gibt es keine. Im letzten Sommer hatten die Tawergha-Führer einseitig Pläne für eine Rückkehr angekündigt, auf Drängen der Regierung aber wieder davon Abstand genommen.

Entschuldigung an Misrata

Die Regierung argumentierte, es brauche zuerst einen Versöhnungsprozess, und die Stadt müsste wieder aufgebaut werden. Bereits im Februar 2012 hatte die Tawergha-Führung eine offizielle Entschuldigung an die Bevölkerung von Misrata gerichtet und versprochen, alle jene auszuliefern, gegen die konkrete Anschuldigungen wegen Übergriffen vorliegen würden. "Es wird viel geredet", sagt Ali ohne Illusionen. (Astrid Frefel aus Tripolis, DER STANDARD, 18.4.2014)