Wien/Liverpool - Niemand geht in Liverpool an diesen Tagen alleine. Die Gefühlswelt in der englischen Hafenstadt ist widersprüchlich. Noch am Sonntag schoss der Brasilianer Coutinho den FC Liverpool zum 3:2-Sieg gegen Manchester City. Die Hände auf der legendären Fantribüne "The Kop" ragten jubelnd in den Himmel über der Anfield Road, die Träume vom ersten Meistertitel seit 1990, es wäre der 19. insgesamt, erfuhren einen Schub Realität.

Dienstag sind die Hände an der Merseyside in Andacht gefaltet. "You'll never walk alone", die Hymne des Kultklubs, erhält - als wäre sie nicht schon groß genug - zusätzliche Bedeutung. Neben der Stadt erinnert sich auch ganz England an den Samstag vor genau 25 Jahren, an die Tragödie im Sheffielder Hillsborough Stadion.

Emotionale Momente vor dem Match gegen ManCity. (Foto: dapd/Hales)

Die englische Fußballgeschichte erfuhr einige Schicksalsschläge. Keine Katastrophe ist aber so nachhaltig und gegenwärtig, wie die Geschehnisse beim Cupsemifinale 1989 zwischen Liverpool und Nottingham Forest. Hillsborough geistert immer noch durch Gerichtssäle, Medienhäuser und Stadien, die Akten sind nicht geschlossen.

"Alle waren überfordert," hieß es in den Untersuchungen. Stadionsicherheit und Polizei hätten falsch reagiert, Rettungskräfte wären unzureichend ausgerüstet gewesen und überhaupt lief fast alles falsch. Schon vor dem Spiel war eine Entscheidung gefallen, die fatale Folgen haben sollte: Die mehr als 10.000 Liverpool-Anhänger wurden auf die kleinere Lepping-Lane-Stehplatz-Tribüne gepfercht und mussten sich durch drei Eingangstore zwängen. Um ein Ausufern des Gedränges zu verhindern, wurde ein Ausgangstor geöffnet, die anschließende Massenpanik kostete 96 Fans das Leben, hunderte wurden verletzt. Anhänger versuchten sich auf den oberen Rang oder über die Zäune auf das Spielfeld zu retten, die Tore zu diesem blieben viel zu lange verschlossen. Im Chaos wurde angepfiffen und nach sechs Minuten abgebrochen.

Hillsborough: Ein fassungsloser Zeuge sitzt auf dem Rest der Tribüne. (Foto: AP)

England stand unter Schock. Die Regierung Thatcher setzte eine Untersuchungskommission unter Richter Peter Murray Taylor ein. Das Ergebnis, der "Taylor-Report", prägt die Fußballgegenwart. Zäune zwischen Spielfeld und Publikum wurden und bleiben verbannt. Darüber hinaus sollte es in den obersten beiden Spielklassen keine Stehplatztribünen mehr geben. Die Vereine mussten reagieren und erhöhten aufgrund der geringeren Kapazitäten die Ticketpreise, um die finanziellen Einbußen abzufedern. Das Konzept gefiel der Uefa so gut, dass sie es auf alle internationalen Begegnungen adaptierte. Stehen war gestern, der moderne Fußball bekam das Sitzen.

In eine andere Kerbe schlug 1989 der Boulevard: "The Sun" titelte "The Truth" und stellte die Liverpooler Fans an den Pranger: Betrunken und gewaltbereit sollen sie gewesen sein, die Katastrophe selbst verursacht haben. Erst 2012 entschuldigte sich neben dem ehemaligen Chefredakteur auch Premierminister David Cameron für die "doppelte Ungerechtigkeit". Zum Ersten hatte es der Staat verabsäumt, ausreichend Schutz zu bieten. Zum Zweiten wurden die Opfer zu Tätern gemacht.

Die "Sun" ist bei den Liverpool-Fans weniger gut angeschrieben. (Foto: EPA/Rain)

Hillsborough ist nach wie vor allgegenwärtig. Jährlich kommt es Mitte April in Englands Stadien zu Schulterschlüssen, die Erinnerungen sperren Rivalitäten kurzzeitig aus. Steven Gerrard erinnert sich vor allem an Jon-Paul Gilhooley. Der damals zehnjährige Cousin des Liverpool-Kapitäns war in Hillsborough unter den Opfern. Gerrard würde ihm den möglichen Meistertitel widmen. Gefeiert wird im Sitzen. Und im Stehen. (Andreas Hagenauer, DER STANDARD, 15.04.2014)

Zum Thema: Stadionkatastrophen - Spieltage von trauriger Berühmtheit