76 Jahre nach ihrer Flucht kehrt Ilse Katz nach Wien zurück.

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An ihrer alten Adresse stieß Frau Katz auf ihren Geburtsnamen Ilse Weiss.

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Ilse Katz wurde von Tochter Lynda nach Österreich begleitet.

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Zeichnung der Frontansicht der Ybbsstraße 6 vor dem Krieg.

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Das zerbombte Haus nach dem Krieg.

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Das Haus heute.

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Wien - Wie ausgelöscht. Ilse Katz hat keine Erinnerung an ihr Leben in Österreich. Sie war sechs Jahre alt, als sie das Land mit ihren Eltern verlassen musste - im Sommer 1938, wenige Monate nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen. Zuerst flüchtete die jüdische Familie nach Belgien, mit dem Schiff ging es wenige Monate später weiter nach Australien. Erst hier beginnt Katz' Erinnerung. Ihre Eltern haben bis zum Tod nie wieder über die Zeit in Wien gesprochen, sie ließen das Grauen hinter sich. Ihre Habseligkeiten, die sie vor den Nazis retten konnten, sollten verschifft werden, gingen aber in den Kriegswirren verloren. Nur das Hochzeitsfoto und ein Tagebuch der Mutter blieben Ilse Katz erhalten. Der letzte Eintrag stammt vom März 1938: "Hitler ist einmarschiert." Danach kein Wort mehr.

Verdrängte Vergangenheit

Die Schweigsamkeit ihrer Eltern hat Katz ihr Leben lang belastet. "Vielleicht dauert es 50 Jahre, bis man wieder über diese schreckliche Zeit reden kann", sagt sie heute. Die junggebliebene 83-Jährige hat eine ruhige, besonnene Art. Sie spricht gepflegtes Englisch und wechselt manchmal ins Deutsche, das sie in der Schule gelernt hat. Mit ihren Eltern sprach sie nur Englisch.

Nach der Schulzeit in Sydney wurde Ilse Katz Apothekerin. 76 Jahre nach der Flucht besuchte sie auf Einladung des Jewish Welcome Service wieder ihre Geburtsstadt. Die Adresse des Hauses konnte sie auftreiben. Die Familie wohnte im zweiten Bezirk im Stuwerviertel - der Vater betrieb eine Parfümerie in der Schlachthausgasse im dritten Bezirk, die Mutter war Hausfrau.

"Das Haus bedeutet mir eigentlich nichts", dachte Katz. Gemeinsam mit Tochter Lynda steht sie nun in der Ybbsstraße 6. Es ist ein milder Frühlingstag, die Sonne strahlt durch die Lindenbäume. Der Altbau hat eine renovierte Fassade und eine neue Eingangstür. Frau Katz ist unsicher. Wird ihr irgendetwas vertraut vorkommen? Doch auch vor Ort kommt die Erinnerung nicht wieder.

"Suchen Sie etwas?", fragt Dietmar Larcher. Der sportliche 74-Jährige wohnt seit seiner Pensionierung als Erziehungswissenschafter und Hochschullehrer in dem Haus und kommt gerade vom Einkaufen zurück. Die beiden Damen nehmen die Hilfe des Herrn mit dem Tiroler Akzent gerne an. "Ich habe hier einmal gewohnt, bis 1938", sagt Ilse Katz. Larcher versetzt es einen Stich. Er fragt nach dem Namen, zeigt auf eine goldene Tafel am Eingang: "Zum Gedenken an die jüdischen Hausbewohner, die von den Nationalsozialisten vertrieben und ermordet wurden." Darauf zu lesen: "Weiss Viktor und Dora mit ihrem Kind Ilse 1938 nach Australien." Weiss, so lautete der Mädchenname von Ilse Katz.

Larcher und seine verstorbene Frau Agnes hatten die Tafel initiiert. Die Historikerin verbrachte viel Zeit damit, die Geschichte des Hauses und vor allem der ehemaligen jüdischen Bewohner aufzuarbeiten. Eine davon steht nun auf dem Gehsteig. Unter Tränen tauschen sie ihre Lebensgeschichten aus. Larcher ist froh, das nachholen zu können, was seiner Frau und ihm ein wichtiges Anliegen war - den ehemaligen jüdischen Hausbewohnern zu sagen: "Ihr seid nicht vergessen. Euer Schicksal bewegt uns auch heute noch."

Nur die Hälfte überlebte

Insgesamt 40 Personen, die von den Nazis als Juden definiert worden waren, hatten in der Ybbsstraße 6 gelebt, wie Agnes Larcher in ihrem Buch Ein Haus und sein Viertel schreibt. 20 gelang es wie Familie Weiss, unter schwierigsten Bedingungen rechtzeitig auszuwandern, 20 wurden in den Konzentrationslagern Auschwitz, Buchenwald und Theresienstadt ermordet. Ilse Katz hat überlebt.

Sie selbst wollte gar nicht nach Österreich kommen. Auf Drängen ihrer Tochter, die die Vergangenheit der Familie aufarbeiten wollte, trat sie die beschwerliche Reise doch an. Beide wollen ihre Wiener Erlebnisse nun in Australien verbreiten. Denn dort seien immer noch viele in der jüdischen Gemeinde überzeugt, nie wieder nach Österreich reisen zu wollen. "Sie meinen, sie hätten damit abgeschlossen", sagt Tochter Lynda. "Es ist aber wichtig zu erfahren, dass sich die Dinge geändert haben und dass es Menschen gibt, die sich Gedanken machen." Das Treffen mit Dietmar Larcher habe ihr Antworten auf viele Fragen gebracht, "Herr Larcher ist jetzt Teil unserer Familie". Der Besuch in Wien soll auch nicht der letzte gewesen sein. "Sie wollten uns auslöschen", sagt Lynda, "aber wir sind immer noch da." (Rainer Schüller, Rosa Winkler-Hermaden, DER STANDARD, 12./13.4.2014)