Als das vierjährige Kind hinter das Sowjet-Geheimnis kommen wollte, warum die Erwachsenen in der Nähe von Polizisten eine grüne Schattierung um die Nase und diese betont harmlose Stimme bekamen, wurde dieses Geheimnis besser gehütet als der Einmarinierte im Mausoleum. Den hatte das Kind auch nie gesehen, obwohl es mit seiner Oma gefühlte Ewigkeiten auf dem Roten Platz ausgeharrt hatte.

Bewaffnet mit einem Netz voller knalloranger Mandarinen - eine seltene Handelsware, die andere Wartende neidische Blicke werfen ließ. Bis die Filzüberstiefel feucht wurden und die Kälte sich in gestrickte Socken und Lederschuhe vorarbeitete, bis man die Füße gar nicht mehr spürte. Dann musste das Kind aufs Klo, und der Führer aller Völker war es definitiv nicht wert, angepinkelt bei Minusgraden eine weitere gute Stunde zu warten, bis die Schlange, die sich vor dem Allerheiligsten gebildet hatte, sich ein wenig weiterbewegt haben würde.

Der Besuch wurde also abgebrochen, die Türen des Tempels öffneten sich nicht, und das Kind dachte nicht mehr daran. Das andere Geheimnis aber, jenes, was hinter den verschlossenen Türen der Polizeistationen quer durch die UdSSR wohl vor sich ging, blieb so ungelüftet wie drängend. Die intensive Fragerei vor jeder Station, an der man das Kind vorbeiführte, ja sogar Versuche, im Vorbeigehen unauffällig hineinzuspazieren, um einen Reality-Check im Alleingang zu unternehmen, machte Großeltern, Eltern, ja sogar Freunde der Familie nervös.

Das war eine ungesunde Neugier, befand die Mutter, die schon mehrere unangenehme Begegnungen in jenen Wachstuben erlebt hatte, ebenso wie der Vater. Man musste etwas unternehmen, so viel war klar. Man berief den Familienrat zusammen, das Kind wurde in die Mitte des Wohnzimmertisches gesetzt, und auf das Kind wurde intensiv eingesprochen. "Du sollst da nicht rein", sagte Oma. "Sei froh, wenn du nicht dort bist", der Vater. "Warum nicht?", empörte sich das Kind. "Weil nur schlechte Menschen dort landen", schloss die Mutter. Das Kind wurde nachdenklich. Die Familie zog erleichtert ab, überzeugt vom Erfolg der Umerziehungskur und voller ungerechtfertigtem Vertrauen in die Vernunft des Kindes. Am nächsten Tag schlich es auf dem Weg in den Kindergarten nicht mehr die Wand entlang, um Polizeistationen beizeiten ausfindig zu machen, sondern ging straßenseitig an der Mutterhand.

Die Freude über das artige Verhalten währte nicht lange. Sobald ein Polizeiwagen unter Sirenengeheul vorüberraste, riss sich das Kind los und lief auf die Fahrbahn. "Nehmt mich mit! Ich bin schlecht!", brüllte es. Der Wagen bog um die Ecke. Die große Chance war vorbei. (Julya Rabinowich, Album, DER STANDARD, 12./13.4.2014)