Indien hat keine Küche, es ist eine. Kochen und essen ist hier eine sehr öffentliche Angelegenheit, zumindest in den Städten. Auf den Hauptstraßen stehen die Händler mit ihren Fladen, Currys und Süßigkeiten, in den kleineren Gassen dahinter sind nochmals drei Mal so viele Menschen damit beschäftigt, die Waren vor- und zuzubereiten.

Gehen Sie einmal um den Block und Sie werden an vier Frittierern und drei Teigausrollern vorbei kommen, fünf Obsthändlern zwei Teekochern, einem Zwiebelschneider und wahlweise einem Milch-Einkocher oder Paneer-Macher. Ein Gutteil all der vielen Tätigkeiten, die mit Nahrung zu tun haben, findet hier auf der Straße statt, bis hin zum unweigerlichen Abschluss der Nahrungskette.

2,5 Milliarden Menschen essen laut Uno täglich Streetfood. Für die allermeisten ist das eine Kostenfrage - sie haben entweder keine eigene Küche, oder es ist schlicht günstiger, als wenn sie selbst kochen. Auf einer indischen Straße wird man für 20 Cent relativ satt, das ist selbst für hiesige Verhältnisse ziemlich billig. Auf der anderen Seite beschäftigt die Streetfood-Industrie Millionen von Menschen: In den großen Städten sind es oft Einwanderer aus bestimmten Dörfern, die sich auf ein bestimmtes Essen spezialisieren. Sie schlafen auf und unter ihren Ständen, alle paar Wochen fahren sie nach Hause, um Geld zu bringen.

"Beiß in die Welt, und hoffe, dass sie nicht zurück beißt", hat dieser professionelle Straßenesser einmal geschrieben. Hier ein paar Eindrücke von meinen vergangenen Bissen.

Die Chinesen mögen unerreicht darin sein, alles zu essen, die Inder schaffen es dafür, mit wirklich allem (und alles) zu würzen. Sanjeev Kapoor nennt in seinem schönen Buch Kreuzkümmel, Koriandersamen, Kurkuma, Senfkörner, Kardamom und Garam Masala als Grundstock einer guten Gewürzbox...

Foto: Tobias Müller

...Chili und Tamarinde versteht sich ebenfalls von selbst.

Foto: Tobias Müller

Teilweise findet sich für Europäer Erstaunliches in den großen Säcken, die die Träger über den Gewürzmarkt von Delhi schleppen.

Foto: Tobias Müller

Das Mangokern-Fachgeschäft bietet getrocknete Kerne aller Größen und Qualitätsstufen, die zu einem Pulver zum Säuern von Gemüse gemahlen werden. Der Melonenkern-Dealer Ihres Vertrauens liefert die Kerne, aus der Sie eine süße Gewürzpaste machen können. Sein Nachbar dealt mit Baumrinde und Flechten (im Bild), für die waldige Curry-Note. Und was Sie mit den Baumwollknospen anstellen sollen, ist für mich im hinglisch verloren gegangen.

Foto: Tobias Müller

Das Land ist weit und unterschiedlich, und mit den allgegenwärtigen Currys verhält es sich nicht anders. Der Name bezeichnet alles, was in Sauce gekocht und serviert wird - in Indien also sehr sehr viel. Inder benutzen das Wort allerdings eher nicht, wenn ich das richtig beobachtet habe. Es dient mehr dazu, mit Western sinnlose Gespräche zu führen ("Was ist das?" "Curry!")  Je nach Preisklasse des Restaurants sind eins bis hundert im Angebot.

Foto: Tobias Müller

Große und kleine Töpfe voll Currys türmen sich vor den Straßenlokalen, und wenn sie muslimisch sind, dann kauert abends eine große Schar an Menschen davor. Die Leute sind keine potenziellen Kunden, ganz im Gegenteil  - es sind Bettler, die darauf warten, von den gläubigen Lokalbesitzern eine Teigflade und etwas Dhal, das allgegenwärtige Linsencurry, als Almosen zu bekommen.

Foto: Tobias Müller

Meine bisherigen Curry-Favoriten: Kadhai Paneer, der allgegenwärtige Fast-Käse in einer scharfen, manchmal richtig gut abgeschmeckten Paprika-Tomatensauce; und das sauer-scharfe Curry Signature-Curry Rajastans (im Bild in der kleinen Schüssel rechts). Die Wüstenbewohner Rajastans kochen aus Wassermangel viel mit Milch oder Joghurt, die wegen der Hitze schnell sauer werden. Für ihr Standardcurry wird saure Buttermilch mit Kichererbsenpulver gemischt, und mit Zwiebeln, Chili, und was sonst noch zur Hand ist zu einer erfrischend-spannenden Köstlichkeit vermischt. Dazu gibt's gern einen Chutney-Brei aus Chili, Knoblauch und Gurkenpulver (Luftgetrocknet, dann gemahlen), der ganz köstlich ist und sich auch über die Trockenzeit hält.

Foto: Tobias Müller

Jede Stadt hat ihren eigenen Fritteusen-Snack, das Samosa aber eint das Land.

Foto: tobias müller

Die Teigtasche ist im Norden allermeistes mit einem Erdäpfelbrei gefüllt, der mit Zwiebel, Chili und Gelbwurz gewürzt ist.

Foto: tobias müller

Was den Chinesen das Soja, ist den Indern die Kichererbse und die Linse, die entweder geröstet oder roh zu Mehl gemahlen oder verkocht werden. Das Mehl wird nicht nur für Brot. sondern auch zum Strecken allerlei Breie oder zum Mixen von Drinks (Sattu) verwendet. Kichererbsen-Mehl nimmt angeblich weniger Fett auf als Weizenmehl, was bei des Inders liebster (Straßen-)Kochtechnik, dem Frittieren, durchaus wichtig ist.

Foto: Tobias Müller

Der vielleicht beliebteste indische Straßensnack zwischen der Thar Wüste und der Bucht von Bengal sind die Gol Gappas (vulgo Panipuris oder Pujkers) - ein erstaunliches Beispiel, wie man aus billigsten Zutaten einen großen Biss kreieren kann (quasi die Adria-Olive des kleinen Mannes): Eine kleine Teigflade (Mehl variiert je nach Hersteller) wird ausgerollt und frittiert…

Foto: Tobias Müller

 ...sodass sie zu einem Ballon aufgeht und hart und knusprig wird.

Foto: Tobias Müller

Der Gol Gappas-Verkäufer macht mit seinem Finger ein Loch in die Kugel, steckt eine scharf gewürzten Bissen Kartoffel-Kichererbsenbrei hinein und taucht das Ganze tief in einen Krug voll gewürztem Koriander-Wasser.

Foto: Tobias Müller

Die gefüllten Bälle werden dem Esser auf kleinen Tellern einzeln serviert. Er steckt sie ganz in den Mund, möglichst schnell, sodass das Wasser nicht ausrinnen kann, und beißt zu.

Foto: Tobias Müller

Das Ergebnis, eine knusprig-scharfe, kalt maße Koriander-Gewürzexplosion, ist einer der größeren Genüsse der indischen Straßenküche.

Foto: Tobias Müller

Nordindien ist ein Land der Bäcker. Während die Südinder auf Reis setzen, gibt es im Norden keinen noch so popeligen Imbiss, der nicht sein frisches Brot a la minute selber bäckt.

Foto: Tobias Müller

Der Brotkönig ist das Chapati, eine simple Flade, die in der Stadt auf einem Rost über Gasflammen oder Kohlen, auf dem Land über brennenden Kuhfladen gebacken wird. Letzteres sei gut für den "natürlichen Geschmack", hat man mir erklärt. Während sie in Delhi oder Kolkata meist aus Weizen gemacht wird, setzten die Wüstenbewohner Rajastans auf Hirse, was zu festerer, gröberer Konsistenz und intensiverem Aroma führt.

Foto: Tobias Müller

Zum Frühstück regiert das Puri (im Osten, mit leicht veränderten Zutaten, Luchi): Weizenfladen mit Ghee, die in heißem Fett gebacken werden, bis sie aufgehen wie ein Ballon, und dann noch brennend heiß mit Eintop (meist Kartoffel und Linsen) serviert werden. (Im Bild mit Kartoffelcurry mit Orangenaroma und Jalebi, einer beliebten Nachspeise)

Foto: Tobias Müller

Indiens Antwort auf die Calzone heißt Paratha und schmeckt tatsächlich manchmal sehr ähnlich wie beim guten Italiener. Sie ist so beliebt, dass ihr in Delhi eine ganze Straße gewidmet ist, die Paratha Wali Gali (in etwa: Gefüllte Fladen Gasse).

Ein simpler Wasser-Mehl-Teig wird ausgerollt, befüllt (meist Kartoffeln, manchmal auch nur Ghee), zu einem Sack geformt und erneut ausgerollt. Das Ganze wird dann idealerweise im Tandoori, dem Erdofen, knusprig gebacken und heiß mit (Knoblauch-)Ghee bestrichen. Wer Glück hat, bekommt dazu ein herrlich erfrischendes Koriander-Minz-Chutney zum Tunken. Im Idealfall ebenfalls aus dem Tandoori kommt das auch hierzulande bekannte Joghurtbrot Naan

Foto: Tobias Müller

Der Tee gehört zu den kleinen Freuden im sehr lauten indischen Straßenalltag. Anders als China hat Indien keine alte Teetrinker-Kultur, erst die britischen Kolonialherren brachten das Getränk hierher. Heute aber ist es neben dem Lassi das Nationalgetränk. So wie in den Kaffeeanbau-Ländern kein guter Kaffee zu bekommen ist, ist es in Indien schwer, guten Tee zu bekommen, der geht eher komplett in den Export.

Foto: Tobias Müller

Der Chai Massala, der auf der Straße serviert wird, ist aber trotzdem auf seine Art köstlich: Ingwer und Kardamom, manchmal auch noch Pfeffer und Nelken, werden zusammen mit sehr starkem Tee in einem großen Topf gekocht. Sobald es ordentlich wallt, wird das Gebräu durch ein Tuch in eine Topf mit kochender Milch und reichlich Zucker geseiht.

Foto: Tobias Müller

Von hier wird er in kleine Terracotta-Becher gekippt und je nach Größe für fünf bis 15 Cent verkauft. Um die guten Stände drängen sich bis spät am Abend Trauben von Menschen, die Tee nippen und an frischen Samosas mit Tamarind-Sauce knabbern.

Foto: Tobias Müller

Nordinder ernähren sich zu einem Gutteil von Zucker. Die Dichte an Süßigkeitenshops hier übertrifft jene von Starbucks in den USA. Die süßen Snacks, die verkauft werden, sind meist ein, zwei Bissen groß und werden nicht nur als Nachspeise, sondern auch statt und während einer Mahlzeit gegessen.

Foto: Tobias Müller

Trotz verschiedenen Aussehens schmecken sie meist ziemlich gleich und meiner Meinung nach nicht besonders interessant. Das liegt daran, dass sie fast alle aus dem gleichen Grundstoff bestehen: Khoa. In großen Töpfen wird stark gezuckerte Milch über glühenden Kohlen gekocht und ständig gerührt…

Foto: Tobias Müller

 …bis sie zu einem klebrigen, intensiv-milchigem Brei eingedickt ist: dem Khoa. Frisch schmeckt das ganz köstlich milchig, einmal verarbeitet verliert es aber schnell seinen Zauber.

Foto: Tobias Müller

Mein liebster süßer Snack sind die Gulab Jamun: Khoa-Bälle, die vorsichtig frittiert und in Zuckersyrup eingelegt werden. Wenn sie ganz frisch und noch warm vom Frittieren sind, haben sie eine herrlich-weiche Konsistenz und einen feinen Milchgeschmack, der ein wenig süchtig macht. Ihre Köstlichkeit schwindet aber - siehe oben - mit jeder Minute zwischen Topf und Verzehr, am Abend sind sie meist nicht mehr halb so gut.

Foto: Tobias Müller

Und auch gekäst wird auf der Straße. Für den Paneer - den Milchtofu - wird Milch erhitzt und mit Säure versetzt, sodass sie gerinnt.

Foto: tobias müller

Das Ergebnis wird durch ein Tuch geseiht…

Foto: tobias müller

…und die geronnenen Proteine zwischen zwei Steinen gepresst, bis es die Konsistenz von Tofu hat (auf den Bildern in einer Seitenstraße von Varanasi). Der fertige Paneer wird in kleine Stücke geschnitten und entweder frisch mit Gewürzen und Kräutern verspeist oder in diverse Currys gekippt. Wie Tofu schmeckt er nur dann gut, wenn er wirklich frisch ist. (Tobias Müller, derStandard.at, 13.4.2014)

Foto: tobias müller