Im Kaschieren und Bluffen ist Ungarns populistischer Ministerpräsident Viktor Orbán ein Großmeister. "Was für ein großartiger Sieg!", rief er in der Wahlnacht seiner Wiederwahl den feiernden Fans zu. Von einem Triumph, "dessen Bedeutung wir heute noch gar nicht ermessen können", schwärmte er ihnen vor.

Tatsächlich wurde Orbáns Fidesz-Partei relativ die stimmenstärkste Kraft. Die erneute Zweidrittelmehrheit, mit der man in Ungarn die Verfassung beliebig ändern kann, hängt an einem einzigen Mandat, das wegen der Wahlkarten-Wähler noch wackelt. Doch die Realität ist auch: Fidesz hat seit 1998 noch nie so wenige Stimmen bekommen – wobei zwei von den drei Wahlen nach 1998 für Fidesz sogar verlorengingen. In absoluten Zahlen hat Orbáns Kaderpartei seit der letzten Wahl 2010 einen Verlust von 600.000 Stimmen eingefahren.

Dass sie mit diesem Ergebnis überhaupt in die Nähe einer Zweidrittelmehrheit kam, ist dem Umstand zu verdanken, dass Orbán mit der Zweidrittelmehrheit von 2010 das Wahlgesetz gnadenlos auf seine Bedürfnisse zuschnitt. Gut ein Mandat brachte wohl das erstmals zur Anwendung gelangte Wahlrecht für ethnische Ungarn im Ausland, die nicht in Ungarn wohnen. Mehrere Mandate dürften dem Fidesz-gerechten Zuschnitt der neuen Einzelwahlkreise für das nunmehr verkleinerte Parlament zu verdanken sein. So etwa das der traditionell links wählenden westungarischen Bergbaustadt Ajka: Sie war nun auf zwei umliegende ländliche Wahlkreise aufgeteilt, sodass sich die linke Mehrheit darin auflöste.

Bei der Beschlussfassung – und Rechtfertigung – der neuen Wahlordnung schien es, als ob das keine große Rolle spielte. Jetzt aber, wo die ersehnte "Super-Mehrheit" von einem einzigen Mandat abhängt, tut es das sehr wohl. Sollte sie Orbán tatsächlich erzielen und sie, wie in den vergangenen vier Jahren, weiter dazu nutzen, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abzubauen, wird ihn dabei ein beträchtliches Legitimationsdefizit begleiten.

Keine Strategie der Nachhaltigkeit

Viel Wählergunst bewahrte sich der Populist dadurch, dass er sich über Sondersteuern Geld von den Banken und Investoren holte und die Energiedienstleister zu Strom- und Gaspreissenkungen zwang. Das ist aber keine Strategie der Nachhaltigkeit. Ungarns Wachstum ist minimal. Innerhalb der Region fällt das Land hinter Polen, Tschechien und der Slowakei zurück, Rumänien schließt zu ihm auf. Es ist nicht klar, wie Orbán diesen Trend umkehren will. In Gang gesetzt haben ihn die linksliberalen Vorgänger, korrigiert hat er ihn aber in seinen vier Jahren auch nicht.

Die Unzufriedenheit der Ungarn äußert sich derzeit in Apathie, sie könnte irgendwann in politische Aktivität umschlagen. Orbáns Triumph vom Sonntag birgt das Verfallsdatum in sich. Das erhöht die Verantwortung der demokratischen Opposition. Ausgezeichnet hat sie sich bei dieser Wahl nicht. Kleinliche Rivalitäten um den Spitzenkandidaten-Posten in einem Rennen, bei dem dieser bei Orbáns relativer Überlegenheit für das Endergebnis keine Bedeutung hatte, verhinderten eine zeitgerechte Positionierung als alternatives Bündnis mit überzeugender Programmatik. Gordon Bajnai, der dem MSZP-Chef Attila Mesterházy an der Listenspitze den Vortritt lassen musste, merkte in der Wahlnacht immerhin selbstkritisch an: "Unser Angebot war für die Mehrheit der Ungarn nicht attraktiv genug."

Das Lager der linken Mitte wird in sich gehen müssen. Die rechtsextreme Jobbik, die in ihrer Ideologie der deutschen NPD näher steht als der FPÖ, hat vier Prozentpunkte zugelegt. Im ländlichen Raum hat sie die Linke vielerorts auf den zweiten Platz verwiesen. Das ist auch ein Ergebnis der Politik Orbáns, der die Menschen im unteren Segment der sozialen Skala mit verschärften Sozial- und Polizeigesetzen traktiert. Sie verfallen in Passivität oder laufen der Jobbik zu. Den weiteren Aufstieg der Rechtsextremisten kann nur die Linke stoppen, indem sie ihre Reihen ordnet und vernünftige Alternativen zum Populismus Orbáns und zur Hasspolitik der Jobbik aufzeigt. (Gregor Mayer, derStandard.at, 7.4.2014)