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Das Jahrhundert an der Gurgel packen: Elias Canetti in Zürich. Die Abbildung stammt aus dem Jahr 1977. Zwanzig Jahre nach dessen Tod erscheint nun ein Band mit zum großen Teil unveröffentlichten Aufzeichnungen zum Thema Tod.

Foto: APA / Elias-Canetti-Erben / Carl-Hanser-Verlag

"Du sollst nicht sterben (das Erste Gebot)." - Wenn Elias Canetti diesen Satz aufs Papier setzt, tut er zweierlei: Er zeigt, dass derjenige, der schreibt, da ist, lebt. Die Schrift hat die Macht, den schon abgeschickten Pfeil des Todes für einen Moment in der Schwebe zu halten. Wer schreibt, wer spricht, ist nicht tot.

Zugleich postuliert Canetti einen Soll-Zustand, der das fünfte Gebot - "Du sollst nicht töten" - maßlos überschreitet und ein Leben jenseits allen Todes einfordert. Der Nobelpreisträger Canetti hat als sein eigentliches Hauptwerk die Aufzeichnungen bezeichnet. Ab 1942, mitten im Krieg, ging Canetti daran, explizit Gedanken über den Tod niederzuschreiben.

Und der Tod hat immer Konjunktur - sei es die atomare Aufrüstung der Welt, seien es blutige Regionalkonflikte wie die Golf- und die Jugoslawienkriege. Auf der einen Seite weiß Canetti, welch ungeheure Aufgabe er auf sich nimmt: Der Tod kennt weder Anfang noch Ende. Andererseits hat Canetti ein reales Vorbild: "Pensées gegen den Tod. Das einzig Mögliche: sie müssen Fragmente bleiben." Der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal hat mit seinem Buch Pensées - Gedanken ein religiös-existenzialistisches Werk über Leben und Tod verfasst. Canetti konnte sich an ihm reiben, ihn kritisieren und teilweise zum Vorbild nehmen. Immer dort, wo Krieg herrscht, gilt: "Der Tod ist Mode." Zugleich darf man existenzialistisch gedacht anmerken: "Wie soll ein Leben Wert haben, das als Darm angelegt ist."

Elias Canettis Aufzeichnungen mit dem Titel Das Buch gegen den Tod umfassen die Jahre 1942 bis zu seinem Tod 1994. Diese Prosaminiaturen bestehen aus eigenen Aphorismen, Zitaten von Geistesgrößen wie Goethe oder Heidegger, Kurzgeschichten, die Canetti nacherzählt oder selbst erfindet. Natürlich kommen im Buch gegen den Tod auch die Weltreligionen zu Wort.

Anfangs ist der Zorn Canettis gegen die christliche Lehre vom ewigen Leben nach dem irdischen überdeutlich: "Gott, als Paranoiker, der die Menschen zerstört, weil er sich von ihnen verfolgt fühlt." Diesen Gedanken notiert Canetti 1945. In späteren Jahren wird er nachsichtiger, vielleicht einsichtiger, weil jede Religion als friedenstiftende sich auch gegen den Tod als Mord auflehnt: "Ich beginne zu glauben, dass diese beiden Worte, Gott und Tod, für dasselbe stehen, dasselbe sind. - Meine Identitätsphilosophie."

In Canettis lebenslangem Kampf gegen den Tod werden nicht wenige Dichter und Denker genannt, die auf die eine oder andre Weise Canetti beeinflusst haben. Sie alle sind tot. Nur ein einziger ist ein lebender Autor: Thomas Bernhard. 1970, so notiert Canetti, hat er ihn auf seinem Gut im oberösterreichischen Ohlsdorf besucht. "Fürst vom Vierkanthof" nennt er ihn ironisch. Doch Canetti ist von der Todesthematik in so manchem Text von Bernhard fasziniert: "Ich lobe und erkläre ihn, ich suche ihn allen nahezubringen, ich erhebe ihn zu meinem Schüler. (...) Thomas Bernhard ist wie ich vom Tod besessen."

Dass Thomas Bernhard niemandes "Schüler" sein wollte, auch nicht der Canettis, liegt durchaus in Bernhards Misanthropie begründet. Der "Übertreibungskünstler" Bernhard wehrte sich, indem er hyperironisch den Tod als "das Beste" bezeichnete, was wir im Leben haben. Und das ließ Canetti naturgemäß nicht gelten: "Niemand weiß besser als Sie, wie sehr wir vom Tod verseucht sind. Dass Sie sich noch zu seinem Anwalt machen, hat mich mit Misstrauen gegen Ihr Werk erfüllt."

In Canettis Buch gegen den Tod finden sich Sentenzen und Kurztexte, die schon publiziert worden sind. Doch rund zwei Drittel der hier versammelten Aufzeichnungen sind bislang ungedruckt geblieben. Alle gemeinsam schildern auf eindrucksvolle Weise den lebenslangen, dichterischen wie philosophischen Kampf gegen die Allmacht des Todes. Interessant dabei ist, dass mit der Zeit der leidenschaftlich bis aggressive Tonfall abebbt.

Mit knapp fünfzig Jahren stehen sich Canetti und der Tod direkt gegenüber - der Tod als äußerst lebendiges allegorisches Monster: "Sein Maul hat sich mir geöffnet, meine Faust steckt jetzt darin. Ich darf sie nicht zurückziehen, bis ich seine Eingeweide, sein Innerstes gepackt habe." Mit knapp achtzig Jahren gewinnt die Schrift, die die Macht hat, den schon abgeschickten Pfeil des Todes für einen Moment in der Schwebe zu halten, zentrale Bedeutung: "Er wird sterbend schreiben, bevor es ganz zu Ende ist, wird er den Satz beenden und aushauchen vor dem nächsten Satz, genau dazwischen."

Was letztlich Elias Canetti mit seinem Buch gegen den Tod bewirken will, ist eine Haltung: Ob Gläubiger oder Atheist, man darf sich nie einer Todesmetaphorik, einer Todesmelancholie oder gar einer Todessehnsucht verschreiben. Man soll, muss ein Leben lang für das eigene Leben im Hier und Jetzt kämpfen. Der Dichter Elias Canetti tut dies mit der Macht der Worte: "Erzählen, erzählen, bis niemand mehr stirbt, Tausendundeine Nacht, Millionen und eine Nacht."

In einer Welt, in der regionale Kriege mit ihren Millionen Toten noch immer fatalistisch als Teil der Geschichte akzeptiert werden, in einer Welt, wo das Sterben und das Denken an den Tod an den Rand der Gesellschaft und in die Krankenhäuser verbannt wird, ist Elias Canettis Buch gegen den Tod ein gedankliches Gegengift, das beim Lesen sicherlich Wirkung zeigt. (Andreas Puff-Trojan, Album, DER STANDARD, 5./6.4.2014)