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Der ungarische Minsterpräsident Viktor Orbán beim Besuch der Opel-Zentrale in Rüsselsheim. Opel ist ein gerngesehener Investor in Ungarn.

Foto: EPA/ARNE DEDERT

Von der ungarischen Wirtschaftspolitik unter Premierminister Viktor Orbán haben lediglich die oberen Einkommensschichten profitiert, sagt der Ökonom Sandor Richter vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche vor der ungarischen Parlamentswahl am Sonntag. Die fehlende Rechtssicherheit verhindere Investitionen ausländischer Unternehmen, die aber dringend nötig seien, sagte Richter im Gesprach mit derStandard.at.

derStandard.at: Die ungarische Regierung lobt ihre Wirtschaftspolitik über den grünen Klee. Die Zahlen sehen auf den ersten Blick auch nicht schlecht aus, die Ratingagentur Standard & Poor's hat die Wachstumsprognose vergangenen Freitag nach oben revidiert. Ist also alles in Ordnung in Ungarn?

Richter: Ungarn hat zwar die Rezession wirklich hinter sich gelassen, aber es gibt kein Zeichen für anhaltendes stabiles Wachstum. Die Investitionen haben zwar begonnen zu steigen, allerdings gab es zuvor mehrere Jahre lang einen starken Rückgang. Die Investitionsquote – also Investitionen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung – ist sehr niedrig. Das muss wesentlich höher werden, mindestens 21 bis 23 Prozent. Derzeit sind es lediglich siebzehn Prozent. So ist stabiles Wachstum nicht zu erreichen.

derStandard.at: Was hindert die ungarische Wirtschaft daran, die Investitionsquote nachhaltig zu erhöhen?

Richter: Für Wachstum sind auch Investitionen in- und ausländischer Unternehmen wichtig. In diesem Bereich gibt es meiner Meinung nach Probleme. Es gibt Rechtsunsicherheit – eine unberechenbare Umgebung für Unternehmen.

derStandard.at: Haben alle ausländischen Unternehmen dieselben Probleme?

Richter: Unternehmen, die in der verarbeitenden Industrie tätig sind, wie beispielsweise Mercedes-Benz, Opel und Suzuki, können ruhig schlafen, weil Premierminister Orbán auf diesem Gebiet gern ausländische Investoren sieht. Im Dienstleistungssektor hingegen, der in einer modernen Wirtschaft größer und wichtiger ist als die verarbeitende Industrie, sieht der Premierminister die ausländischen Unternehmen nicht gern.

Wenn ich von Unsicherheit für Unternehmen spreche, meine ich zum Beispiel die von Fidesz eingeführten Sondersteuern im Banken-, Energie- und Telekomsektor. Es wurde schon mehrmals angekündigt, dass die Bankensteuer wieder aufgehoben wird. Passiert ist es allerdings nicht. In schwierigen Situationen ist es durchaus gerechtfertigt, Sondersteuern einzuführen. Aber es ist wichtig zu sagen, in welcher Höhe und wie lang diese gelten werden, damit die Unternehmen diese in ihre längerfristigen Pläne einberechnen können. Aber wenn Unternehmen nicht wissen, wie die steuerliche Umgebung aussieht, ist das sehr problematisch.

derStandard.at: Orbán würde vermutlich sagen, dass diese Steuern notwendig waren, um das Budget zu sanieren.

Richter: Da könnte man auch kontern, dass es nicht nötig war, die 16 prozentige Einkommensteuer einzuführen und damit aufseiten der Einnahmen ein Loch ins Budget zu reißen. Aus politischen Gründen ist es Orbán auch nicht möglich, diese Flat Tax zurückzunehmen. Ungarn war lange im Defizitverfahren der EU. Es war also wirklich nötig, das Budgetdefizit auf weniger als drei Prozent des BIP zu reduzieren. Diese zwei Faktoren – die niedrige Einkommensteuer und der Zwang zur Budgetkonsolidierung – haben die Sondersteuern nötig gemacht.

Die aktuelle Regierung versucht ihre Steuerpolitik so zu verkaufen, dass sie im Gegensatz zur vorigen sozialistisch-liberalen Regierung nicht die Bevölkerung stärker besteuern wollte, sondern hauptsächlich große ausländische Unternehmen. Die Bürger zahlen derzeit zwar nicht so viel Einkommensteuer, aber gleichzeitig stieg die Mehrwertsteuer von 25 auf 27 Prozent. Das zahlt dann auch jeder, der in einem Geschäft etwas kauft. Aber das ist weniger debattiert worden. Es gibt andere, kleinere Steuern, die dann zusätzlich eingeführt wurden. Fidesz ist sehr geschickt bei der Präsentation dieser Entscheidungen. Sie sagen, wir besteuern die ausländischen großen Unternehmen und schonen den kleinen Bürger. Das entspricht aber nicht der Realität.

derStandard.at: Wie hat sich diese Steuerpolitik auf die unteren Einkommensschichten ausgewirkt?

Richter: Die Flat Tax hatte unangenehme Konsequenzen für schwächere Einkommensschichten. Ein gemeinsamer Nenner unterschiedlicher Berechnungen ist, dass die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung reicher geworden sind, weil ihnen mehr von ihrem Bruttoeinkommen bleibt. Alle anderen Teile der Gesellschaft haben Verluste erlitten.

derStandard.at: Hat sich auf dem Arbeitsmarkt etwas zum Besseren verändert?

Richter: Am Arbeitsmarkt ist auf den ersten Blick ein Anstieg der Beschäftigungsquote zu sehen. Das liegt daran, dass jemand, der zwar im Ausland arbeitet, aber noch einen Wohnsitz in Ungarn hat, als Beschäftigter zählt. Das verschönert das von der Statistik gezeigte Bild. Dazu kommt, dass die Bedingung für Sozialhilfeleistungen das Ableisten von gemeinnütziger Arbeit ist. Auch diese Personen zählen dann als beschäftigt, weil sie ja vom Staat für ihre Arbeitsleistung Geld bekommen. Im Privatsektor gibt es kaum Beschäftigungszuwachs.

derStandard.at: Wie wäre die Budgetkonsolidierung auch ohne Sondersteuern möglich gewesen?

Richter: Es hätte die Möglichkeit gegeben, Reformen durchzuführen, die vielleicht zu Beginn schmerzhaft sind, aber langfristig das Funktionieren des Staates effizienter machen. Sondersteuern führen zu keiner nachhaltigen Verbesserung der wirtschaftlichen Situation. Reformen wären im Gesundheitsbereich, beim Pensionssystem, im Unterrichtswesen und bei der Finanzierung der Gemeinden nötig. Die extreme Zentralisierung, die die Regierung in diesen Bereichen durchgeführt hatte, ist keine echte Reform.

derStandard.at: Wird das vielleicht in den kommenden vier Jahren geschehen? Umfragen zufolge wird Fidesz am Sonntag ja wieder der Wahlsieger sein.

Richter: Wenn er gewinnt, denke ich nicht, dass Orbán das in Angriff nehmen wird. Das würde eine Dezentralisierung nötig machen, mit weniger staatlicher Kontrolle, eingebundenen privaten Initiativen, privatem Kapital. Und das alles sollte mit Expertengremien, Interessenvertretungen und der Zivilgesellschaft diskutiert werden. Das ist genau das Gegenteil davon, was wir in den vergangenen vier Jahren gesehen haben. (Michaela Kampl, derStandard.at, 3.4.2014)