Bild nicht mehr verfügbar.

Tawfiq Hassan, ein ehemaliger Fleischer, posiert in Aleppo für ein Bild, nachdem er von einer Schlacht gegen Assads Streitkräfte zurückgekehrt ist.

Foto: AP Photo/Muhammed Muheisen

Mohammad al-Habash geht weiter als viele seiner Kollegen: Der islamische Gelehrte und Intellektuelle ist einer der führenden Vertreter eines liberalen Islam in Syrien. Er war einer von nur drei Imamen in Syrien, die das gesetzliche Verbot des Niqab (Gesichtsschleier) unterstützten. Seiner Ansicht nach gibt es nicht nur einen Weg zu Gott. Außerdem sollten die heiligen Schriften neu interpretiert werden. Im Jahr 2003 wurde er als parteiloser Abgeordneter ins syrische Parlament gewählt. All das ist seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in den Hintergrund getreten, nach Drohungen von beiden Seiten musste er mit seiner Familie flüchten. Seither lebt und lehrt er in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Vergangene Woche stattete er aus Anlass eines interreligiösen Dialogforums Wien einen Besuch ab. Im Gespräch mit derStandard.at beschuldigt er Bashar al-Assad, das Land als sein Eigentum zu betrachten. Die immer stärker werdenden Jihadisten sieht er mit dem Ende des Konflikts wieder in ihr altes Leben zurückkehren.

derStandard.at: Dieser Tage tummeln sich zahllose religiöse Extremisten in Syrien, die gemäßigten Oppositionskräfte sind sehr schwach. Wie ist ein – verglichen mit Saudi-Arabien – moderates Land so in den Abgrund geschlittert?

Habash: Ich glaube nicht, dass die radikalen Positionen echte Unterstützung in Syrien haben. Ungerechtigkeit und Rechtlosigkeit haben die Menschen dorthin getrieben. Die Leute, die jetzt für Jabhat an-Nusra und Islamische Front kämpfen, waren davor keine Kämpfer. Sie hatten keine Kampfausbildung, sie waren keine Ideologen, die sich wünschten, einen islamischen Staat zu errichten. Sie waren in ihrem Lebensalltag, als Fahrer, Lehrer oder Beamte. Doch sie haben alles verloren. Deswegen ist es normal, dass sie auf diese extremen Positionen verfallen sind. Doch sobald sie eine Chance haben, werden mehr als 70 Prozent im ersten Monat wieder in ihren Alltag zurückzukehren – das verspreche ich Ihnen. Nach einem halben Jahr werden mehr als 95 Prozent wieder in ihren normalen Alltag zurückkehren.

derStandard.at: Aber wie soll man jetzt mit diesen Gruppen umgehen? Sie haben Zahran Alloush, den militärischen Chef der Islamischen Front, selbst im Gefängnis getroffen, als sie noch Abgeordneter waren. Sind das Leute, mit denen man reden oder verhandeln kann?

Habash: Nein, ich denke, es nützt nichts, mit diesen Leuten etwas zu tun zu haben. Diese Menschen können letztlich nicht aufhören. Leute wie Zahran Alloush haben ja nur diese Unterstützung, weil keine Lösung in Sicht ist.

derStandard.at: Einige dieser Jihadisten, die nun im Bürgerkrieg kämpfen, saßen in Syrien im Gefängnis, bis Assad sie freiließ. Inwiefern war das Strategie?

Habash: Man kann nicht sagen, dass Assad diese Situation geschaffen hat oder diese Bewegungen gegründet hat, aber er hat deren Aufstieg indirekt unterstützt. Zum Beispiel beim Chef des Islamischen Staats im Irak und dem Zweistromland: Jeder wusste, wo er sich befindet, aber das Regime hat ihn nicht angegriffen, sie schickten keine Flugzeuge, um ihn zu bombardieren. Sie griffen nicht an, um eine Balance zu schaffen, die dem Regime nützt. Das Assad-Regime hat die Mentalität des Landes korrumpiert und eine Kultur des Hasses geschaffen. Das müssen wir ändern.

derStandard.at: Ist Religion dabei ein Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Habash: Leider wird der Islam oft als gewaltsame Religion wahrgenommen. Als Muslim und islamischer Gelehrter kann ich diesem Bild nicht zustimmen. Der Islam fordert Barmherzigkeit, Liebe und Frieden, nicht Gewalt. Wenn Sie mich fragen, so sind vermutlich 95 bis 97 Prozent der Menschen in Syrien gläubig.

Davon glauben vermutlich 75 Prozent, dass der Islam genug Gesetze für die gesamte Menschheit hat und dass es nur einen Weg zu Gott gibt und wir die gesamte Menschheit auch dazu aufrufen sollten, zum Islam zu konvertieren. Konservative Muslime sind jedoch keine Gefahr. Selbst Papst Benedikt XVI. sagte, dass es nur einen Weg zu Gott gibt und der einzige Weg zur Erlösung der katholische sei. Aber das bedeutet ja nicht, dass er gewaltbereit ist oder irgendeinen Plan verfolgt, andere zwangsweise zu konvertieren.

Dann gibt es Menschen – vermutlich circa 20 Prozent in der islamischen Welt -, die ich Erneuerer oder Reformisten nennen würde. Sie glauben, dass es mehr als einen Weg zu Gott gibt und dass es nicht unsere Aufgabe als Muslime ist, die gesamte Menschheit zum Islam zu konvertieren.

Vermutlich weniger als ein Prozent glauben, dass es ihre Aufgabe ist, zum Jihad aufzurufen, um die Menschen zum Islam zu konvertieren – freiwillig oder unfreiwillig. In einer Phase der Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit ist dieser Prozentsatz vielleicht etwas höher. Mit radikalen Bewegungen müssen wir uns auseinandersetzen, denn sie sind in der Tat gefährlich.

derStandard.at: Welche Rolle soll der Islam in einem friedlichen Syrien spielen?

Habash: Ich finde, wir sollten islamischen Einfluss in unserem Leben akzeptieren. Wir können Staat und Kirche nicht trennen. Zugleich haben wir aber die Verantwortung, die Beziehung zueinander zu erklären. Die islamische Gelehrtengeschichte ist sehr reich, für jede Frage im Leben können Sie fast immer zehn verschiedene Antworten finden. Als Muslim haben Sie mehrere Möglichkeiten und können zwischen verschiedenen Gelehrten und Rechtsschulen wählen. Ich war zehn Jahre im syrischen Parlament, und obwohl es von der säkularen Baath-Partei dominiert war, wurde ich mit keinem einzigen Gesetzesvorschlag konfrontiert, der unislamisch gewesen wäre. Deswegen denke ich, dass wir einen zivilen Staat fordern können, der islamische Methoden respektiert.

derStandard.at: Vor mehr als drei Jahren brach in Syrien die Revolution aus. Zu jener Zeit lebten Sie noch in Damaskus. Wie haben Sie den Ausbruch der Gewalt miterlebt?

Habash: Die Gründe für die Revolution waren alt, aber die Situation war wegen der Stärke des Regimes immer unter Kontrolle. Jahrelang warnten wir den Präsidenten und seinen innersten Kreis: Ihr müsst euch ändern, ihr könnt nicht immer im Stillstand verharren. Doch die Antwort war immer: Nun sei nicht die Zeit, den Menschen ihre Freiheit zu geben.

Dann kam es zum Ausbruch im Ort Deraa. Leider reagierte das Regime darauf mit Stärke und Unterdrückung. Das war der Beginn. Zu jener Zeit war ich noch Abgeordneter im syrischen Parlament, und wir versuchten etwas zu tun. Wir nannten es den dritten Weg, den Weg der Versöhnung, den Weg der Zusammenarbeit. Doch leider hatten wir keine Chance. Das Regime dachte, unser Vorgehen sei gegen sie gerichtet. Die Opposition wiederum dachte, wir würden dadurch das Regime stützen. Es folgten ernsthafte Drohungen, und als die bewaffnete Kräfte begannen sich gegenseitig zu töten, entschlossen wir uns, das Land zu verlassen.

Ich habe viele Male an den Präsidenten appelliert. Anfänglich hatte ich noch das Gefühl, dass er sich zwischen den Stühlen befand: Einige Tage hörte er unsere Stimmen, an anderen Tagen hörte er auf die Stimmen der Armee und der Geheimdienste. Nach sechs, sieben Monaten verfiel er jedoch den Extremisten, die glauben, das Land mit eiserner Faust führen zu müssen. Jetzt können wir leider nur mehr sehr wenig ausrichten, denn es ist nun keine Zeit der Politik oder der Gedanken, sondern eine Zeit der Waffen.

derStandard.at: Im Bürgerkrieg ist Assad dem Vorbild seines Vaters gefolgt. Bei seinem Amtsantritt wurde er jedoch als junger, moderner Anführer gesehen. War das eine Fehleinschätzung?

Habash: Jeder in Syrien erwartete irgendeine Art von Erneuerung und Reform. Die Syrer mochten und akzeptierten Bashar al-Assad, und sie warteten und warteten. Wir sprechen hier nicht von ein paar Monaten oder einigen Jahren – sie warteten zwölf Jahre.

Bashar al-Assad unterstützt keine echten Freiheiten und keine echte Veränderung. Er betrachtet Syrien als seinen Garten und den Garten seines Vaters. Sie glauben nicht, dass es eine Republik ist, sondern ihr Königreich. Doch selbst in einem Königreich kann man sein Volk nicht in eine Ecke stellen und weitermachen wie bisher. Tausende schmoren in den Gefängnissen ohne echtes Gerichtsverfahren. Assad regiert das Land mit eiserner Faust wie einst sein Vater. Als Grund gibt Assad die Bedrohung durch Israel und die USA an. Aber welche Bedrohung? Er hat unser ganzes Land zerstört und spricht über die Bedrohung durch Israel? 41 Jahre lang hat Israel in Syrien nichts angegriffen.

derStandard.at: Seit dem Ausbruch der Kämpfe starben tausende Menschen, Millionen sind geflüchtet. Sehen Sie irgendeinen Weg aus der Misere?

Habash: Um ehrlich zu sein, sehe ich derzeit keine Chance – zumindest jetzt nicht. Der einzige Weg, das Blutvergießen zu stoppen, ist, den UN-Sicherheitsrat zu einen: Wenn das russische Volk glaubt, diesem Blutvergießen ein Ende zu bereiten, dann, glaube ich, kann der Sicherheitsrat das beenden.

derStandard.at: Sollte der Sicherheitsrat auch ein militärisches Eingreifen beschließen?

Habash: Ich glaube nicht, dass wir eine Militäraktion in Syrien brauchen. Wir brauchen internationale Maßnahmen gegen diese Art von Regime. Wir müssen dem Regime die Wahl geben, mit Genf fortzufahren oder weitere Aktionen der internationalen Gemeinschaft befürchten zu müssen.

Aber in der jetzigen Situation mit russischen Waffen und russischer und iranischer Unterstützung glaube ich nicht, dass Assad seine Strategie ändern wird. Das Problem Syriens ist ein kulturelles, ein religiöses und ein humanitäres. Mit jedem Tag Bürgerkrieg verfallen die Menschen mehr und mehr einer Kultur des Hasses. Mit Hass kann man kein Land wiederaufbauen. (Stefan Binder, derStandard.at, 2.4.2014)