Rekonstruktion von Tamisiocaris borealis, der als Planktonfilterer vor 520 Millionen Jahren einen ähnlichen Lebensstil pflegte wie heutige Bartenwale.

Foto: Rob Nicholls, Palaeocreations

In Grönland gefundenes Fossil eines der Greifer, mit denen sich Tamisiocaris Nahrung ins Maul schaufelte. Die Greifer trugen lange, dünne Auswüchse, die in ihrer Gesamtheit ein feinmaschiges Netz zum Einfangen von Plankton ergaben.

Foto: Jakob Vinther, University of Bristol

Bristol - Die Evolution hat Muster, denen sie immer wieder folgt: Das schließen dänische und britische Forscher aus 520 Millionen Jahre alten Fossilien, die in Grönland gefunden wurden. Das Tamisiocaris borealis benannte Tier füllte im frühen Kambrium offenbar die Nische aus, die heute von Bartenwalen und Walhaien besetzt ist: Es filterte Zooplankton aus dem Meerwasser. Und auch wenn Tamisiocaris nicht mal einen Meter Länge erreichte, war er nach damaligen Verhältnissen ein ähnlicher Riese wie heutige Buckel- oder Grauwale.

Rätselhafte Tiergruppe

Tamisiocaris gehörte zur Gruppe der Anomalocarididae, deren Platz im Stammbaum der Tiere noch immer nicht eindeutig geklärt ist. Ihre nächsten Verwandten dürften Gliederfüßer wie etwa Krebstiere sein. Der älteste Fund eines Anomalocaris-Fossils stammt aus dem späten 19. Jahrhundert - doch wurden dieser und spätere Funde fast ein Jahrhundert lang vollkommen verkannt. Man glaubte Fossilien von Quallen, Gliederfüßern und Schwämmen vor sich zu haben. Erst 1985 wurde geklärt, dass es sich bei den vermeintlich unterschiedlichen Tieren in Wahrheit nur um Körperteile ein- und desselben Tiers handelte.

Dass Anomalocaris so lange falsch eingeschätzt worden war, lag nicht nur an seiner unerwarteten Größe: Mit über einem Meter Länge war er mit Abstand das größte Tier in den kambrischen Meeren, soweit bekannt. Schuld daran war auch der Körperbau der Anomalocarididae, der keine Entsprechung unter heute lebenden Tieren hat. Seitlich am Körper angebrachte Reihen von lappenförmigen Fortsätzen sorgten für die Fortbewegung. Der Kopf wies ein scheibenförmiges Maul, das mit Hornplatten ausgestattet war, und hochkomplexe, auf Stielen sitzende Augen auf, die den Facettenaugen von Insekten ähnelten. Dazu kamen als auffälligstes Merkmal zwei lange, nach hinten gebogene Greifwerkzeuge an der Mundöffnung.

Große Formenvielfalt

Diese Greifer sind es auch, auf die Forscher um Jakob Vinther von der Universität Bristol und David Harper von der Universität Durham in Zusammenhang mit den jüngsten Tamisiocaris-Funden aus Grönland besonderes Augenmerk gelegt haben. In ihrer in "Nature" erschienenen Studie verweisen sie auf die verschiedenen Anomalocarididae-Arten, die man mittlerweile kennt. Die flexiblen Greifer trugen Reihen von stachelartigen Auswüchsen - und je nach Spezies waren diese Auswüchse sehr unterschiedlich ausgebildet: Von einer Dreizack-artigen Form, die sich zum Aufspießen von Beutetieren geeignet hätte, bis zu Scheren-ähnlichen Konstruktionen.

Bei Tamisiocaris borealis hingegen handelte es sich um eng stehende Reihen langer, dünner Auswüchse mit noch feineren seitlichen Auslegern. In ihrer Gesamtheit ergab dies eine Kamm- oder Netz-artige Konstruktion, die den Forschern zufolge zum Filtern von Plankton diente. Winzige Krebstierchen bis hinab zu einer Größe von einem halben Millimeter wären in diesem Netz hängengeblieben.

Mit Hilfe von Martin Stein von der Universität Kopenhagen erstellten die Forscher eine Computeranimation der vermuteten Lebensweise von Tamisiocaris: Das Tier schwamm in gemächlichem Tempo durchs Wasser, schwenkte seine Greifer und schaufelte sich das Plankton, das sich in den feinen Verästelungen verfing, zur Mundöffnung. Siehe dazu auch dieses Video:

Quelle: Nature Video/YouTube

Gefunden wurden fossilierte Greifer von zwölf Zentimeter Länge, was zumindest ansatzweise Rückschlüsse auf die Größe des gesamten Tiers ermöglicht. Die Forscher wollen zwar Spekulationen vermeiden, haben ihrer Studie aber eine Grafik beigefügt, die ein Tier von bis zu 70 Zentimetern Länge zeigt. Das ist nach heutigen Maßstäben nicht bemerkenswert, für frühkambrische Verhältnisse aber enorm. Tamisiocaris war damit nur etwas kleiner als sein zeitgleich lebender Verwandter Anomalocaris, der als Spitzenprädator seiner Zeit gilt (auch wenn in jüngeren Studien seine Gefährlichkeit als Jäger in Frage gestellt wurde).

Folgerungen

Aus ihren Analysen leiten die Forscher gleich mehrere Schlüsse ab. Zunächst könne man endgültig die Vorstellung beerdigen, dass es sich beim lange verkannten Anomalocaris um ein seltsames Experiment der Evolution gehandelt habe, sagt Co-Autor Nicholas Longrich von der Universität Bath. Stattdessen seien die Anomalocarididae eine erfolgreiche Tiergruppe gewesen, die verschiedenste Formen ausbildete und somit ganz verschiedene ökologische Nischen besiedeln konnte.

Zweitens zeige die Entwicklung eines Plankton-Spezialisten, dass die Meere des frühen Kambriums den heutigen ähnlicher gewesen sein müssen als gedacht. Das marine Ökosystem muss schon in dieser frühen Phase komplex und reich an Leben gewesen sein, denn Tamisiocaris brauchte eine Menge Plankton, um sich ernähren zu können.

Zum dritten verweist Vinther auf die Parallelen zur Gegenwart: "Diese primitiven Gliederfüßer waren ökologisch gesehen die Haie und Wale des Kambriums." Die gemächlichen planktonfressenden Walhaie und Bartenwale unserer Zeit haben sich jeweils aus Vorfahren entwickelt, die aktive Jäger waren - ein vergleichbares Muster scheint sich vor einer halben Milliarde Jahre auch bei den Anomalocarididae ausgebildet zu haben. Die Forscher leiten daraus am Ende ihrer Studie die Frage ab, ob es nicht nur eine begrenzte Zahl von ökologischen Nischen und Überlebensstrategien gibt, sondern auch eine begrenzte Anzahl an Richtungen, die die Evolution immer wieder einschlägt. (jdo, derStandard.at, 27. 3. 2014)