Das vormalige Österreichische Normungsinstitut (nun: Austrian Standards) hat in den letzten Jahrzehnten fast 20.000 Ö-Normen erlassen, von denen keine - noch bevor sie "erlassen" wurde - auf derartig heftige Ablehnung stieß wie der Entwurf einer Neuausgabe 2014 der Ö-Norm 1080 "Richtlinien für die Textgestaltung". Es geht um die geschlechtergerechte Sprache. Wäre das Ausmaß der Empörung ein wenig geringer, könnte man unter Hinweis auf die Gurkenkrümmungsverordnung der EU rasch zur Tagesordnung übergehen: Warum etwas normieren, wenn's ohne solche Vorschriften auch (ganz gut) geht?

Normierungen sind dann gut, wenn sie zur Vereinfachung, zu mehr Sicherheit und besserer Planbarkeit beitragen. Weltweit gleichartige Elektrostecker wären ein Segen für Vielreisende. Zu viele Normen sind kontraproduktiv, weswegen beispielsweise die Zahl der nebeneinander angebrachten Verkehrszeichen beschränkt ist. Eine unbedachte Vermehrung von Normen für eine zu regelnde Angelegenheit kann deren Geltung erodieren. Glücklicherweise verschwinden regelmäßig lange Zeit für unerlässlich gehaltene Normen, Juristen nennen das "totes Recht".

Einrichtungen wie das Normungsinstitut, die sich verdienstvollerweise um DIN, ISO, CEN und andere technische Normen bemühen, erleichtern gewöhnlichen Menschen vielfach das Leben. Doch wie viele andere Vorschriften erlassende Institutionen schießen sie über das Ziel hinaus, wenn sie meinen, neben technischen auch soziale Normen zum Gegenstand ihrer Vereinheitlichungsbemühungen machen zu müssen. Ob wir Meter oder Meilen, 120 oder 220 Volt, Celsius oder Fahrenheit benutzen, ist letztlich ziemlich wurscht. Qwertz, die Anordnung der Buchstaben auf meiner Tastatur, ist das in Einführungen in die Techniksoziologie gern zitierte Beispiel einer technischen Norm, die heute nicht mehr sinnvoll ist, aber weiterbesteht, weil die Umstellungskosten individuell und kollektiv als zu hoch erscheinen.

Nur wenige nichttechnische Normierungen lassen sich in gesetzesartigen Texten festschreiben, und die Sprache ist nun garantiert jenes Sammelsurium an Praktiken, deren Normierung so sparsam wie nur möglich erfolgen sollte. In (Sprach-)Kulturen mit hoher Zentralstaatlichkeit neigen jene, die sich als Sprachpolizei gerieren (dürfen), viel häufiger dazu, Sprache normieren zu wollen.

Sprache gehört dem Volk

Die Rechtschreibreform der deutschen Sprache von 1996 liefert dafür ein instruktives Beispiel. Der Bundestag befand in einer Resolution: "Die Sprache gehört dem Volk." Und die Normierung der deutschen Sprache gilt nur für die öffentliche Verwaltung. Die Académie française führt ihren Versuch der obrigkeitsstaatlichen Fixierung der französischen Sprache hingegen unverdrossen weiter. In den angloamerikanischen Kulturen käme niemand auch nur auf die Idee, das Parlament mit dieser Sache zu befassen.

Sprache gehört zu den sozialen Veranstaltungen, die sich in kleinen Schritten ändern. Sie hat wohl viel mehr mit Sitte und Anstand als mit technischen Normen gemein. Aus eben diesem Grund irren beide Seiten, sowohl das "Komitee 045 Büroorganisation und schriftliche Kommunikation" des Normungsinstituts als auch die VerteidigerInnen des Binnen-I.

Da die deutsche Sprache nun einmal das generische Maskulinum kennt, wird sie zum Betätigungsfeld für Sprachpolizisten, sobald sich die Ansicht, Sprache schaffe soziale Tatsachen, einmal etabliert hat. Die Vorkämpfer sprachlicher Geschlechtergerechtigkeit irren sich allerdings in doppelter Weise. Es ist offensichtlich widersinnig, ein sich naturwüchsig, das heißt durch Gebrauch wandelndes "Ding" normieren zu wollen. Und es ist unzulässig, den Eindruck zu vermitteln, Sprache sei in allen möglichen Verwendungsweisen in identer Form zu benutzen. Sprachliche Texte wenden sich immer an eine bestimmte Leserschaft, woraus folgt, dass es in manchen Fällen mehr als angebracht ist, bei der Wortwahl darauf zu achten, wen man adressiert und wie man sie anspricht, während in anderen Fällen von ebendieser Vorsicht mit gutem Recht gar kein Gebrauch zu machen ist. Stellenausschreibungen sind etwas anderes als Texte, in denen Generalinnen und Verbrecherinnen bemüht werden.

Gesellschaften, die Sprachen benutzen, die kein Maskulinum kennen - Estnisch, Finnisch, Japanisch, Persisch, Türkisch, Ungarisch und viele mehr -, sind um nichts weniger geschlechterungleich als jene, deren Sprache zwischen Maskulinum und Femininum unterscheidet. Ein Blick in den World Gender Gap Report von 2013 zeigt, dass Finnland auf Platz zwei (von 136) steht, aber die Schweiz (9.), Deutschland (14.) und Österreich (19.) weit vor jenen Ländern rangieren, die sprachlich genötigt sind, die Geschlechtergerechtigkeit schon hergestellt zu haben: 59. Estland, 87. Ungarn, 105. Japan, 120. Türkei, 130. Iran. Daraus wird man zumindest folgern dürfen, dass das Fehlen eines generischen Maskulinums allein die reale Gleichbehandlung von Frauen noch nicht herbeiführt.

Philosophisches Rasiermesser

Vielleicht sollten sich Philosophinnen ihres scholastischen Altvordern William of Ockham (1288-1347) erinnern, dessen "Rasiermesser" immer noch eine beherzigenswerte Maxime abgibt: Vermeide unnötige Vermehrungen von Entitäten!

Was wäre, wenn wir uns darauf einigen, dass jede und jeder so sprechen und schreiben darf, wie er oder sie es für richtig und angemessen befindet? Dem Normungsinstitut blieben immer noch genug technische Normen übrig. (Christian Fleck, DER STANDARD, 26.3.2014)