Sprachwissenschaft und Geschlechterforschung haben nicht nur gezeigt, worin die Geschlechterungerechtigkeit im Schreiben besteht, sie haben auch ganz konkrete Vorschläge zum geschlechtergerechten Schreiben unterbreitet. Ministerien - und damit sind nicht allein Frauenministerien gemeint - haben eigene Leitfäden zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch entwickelt. Selbst der eher konservative Duden, das amtliche Regelwerk für die deutsche Sprache, hat schon vor etlichen Jahren Richtlinien zum geschlechtergerechten Schreiben ausgegeben. In Seminaren über das wissenschaftliche Arbeiten wird Studierenden geschlechtergerechtes Schreiben nahegebracht. Darüber hinaus haben sich in der Pra- xis unterschiedliche Formen geschlechtergerechten Schreibens durchgesetzt.

Ebenso oft wird aber gegen die Gerechtigkeitsregel verstoßen. Mehr noch: Verstöße gegen sprachliche Geschlechtergerechtigkeit sind heute mehr denn je an der Tagesordnung. In ministeriellen Dossiers, amtlichen Broschüren, auf Vereins- und Firmenwebseiten und selbst in wissenschaftlichen Druckwerken haben sich schon längst und klammheimlich sogenannte Generalklauseln zum geschlechtergerechten Schreiben eingeschlichen. Sie enthalten den prekären Hinweis, dass - und zwar zumeist aus dem vermeintlichen Grund besserer Lesbarkeit - im vorliegenden Text die maskuline Form verwendet werde, wobei das weibliche Geschlecht stets "mitgedacht" sei. Das Wort "Leser" stünde demnach sowohl für Leser also auch für Leserinnen. Genau das aber, also die Verwendung des generischen Maskulinums, hat die Forschung schon vor Jahrzehnten als Paradefall androzentrischen Sprechens und folglich sprachlicher Diskriminierung ausgewiesen.

Es liegt also eine paradoxe Situation vor: Noch nie war das Bewusstsein für sprachliche Geschlechtergerechtigkeit so groß wie heute. Gleichzeitig wird immer öfter systematisch dagegen verstoßen. Das Verblüffende daran ist, dass diese Verstöße mittlerweile sogar zur Norm erhoben werden, und zwar im Namen der Gerechtigkeit. Das ist das eigentlich Skandalöse.

Das zeigt folgendes aktuelle Beispiel: Derzeit befindet sich die Ö-Norm A 1080 "Richtlinien für die Textgestaltung" in der Begutachtungsphase. Sie enthält auch Empfehlungen für einen "geschlechtersensiblen Umgang mit der Sprache": Die Frage ist, was die Verfasser_innen unter sprachlicher Geschlechtersensibilität verstehen. Allen Ernstes wird aus Gründen der Verständlichkeit eine "eingeschlechtliche Formulierung" vorgeschlagen, wobei mit dem "einen" Geschlecht ausschließlich das männliche (sic!) Geschlecht gemeint ist. Darüber hinaus wird gegen das sogenannte Splitting polemisiert, die Binnen-I-Schreibung könne auch nicht empfohlen werden, und auf feminisierte Titelbezeichnungen müsse sowieso verzichtet werden.

Nicht zuletzt wird auch noch eine Generalklausel ausdrücklich empfohlen. Wir dürfen uns also einige Jahrzehnte zurückversetzt sehen - in eine Zeit, in der sprachliche Diskriminierung gang und gäbe war. Konsequenterweise ist eine solche Klausel auch dem eigenen Normenentwurf vorangestellt: "Geschlechtsbezogene Aussagen in dieser Norm sind auf Grund der Gleichstellung für beiderlei Geschlecht aufzufassen bzw. auszulegen."

Besondere Legitimierung

Es ist das eine, ob dieser Satz überhaupt allgemein verständlich und semantisch korrekt ist. Es ist das andere, dass mit dieser Generalklausel gegen die sprachliche Geschlechtergerechtigkeit verstoßen wird, und zwar im Namen der Gerechtigkeit! Dadurch, dass sich eine solche Empfehlung zudem in einer Ö-Norm wiederfindet, erhält der Verstoß seine besondere Legitimierung. Schließlich ist die Normempfehlung im Grunde ein Zeichen dafür, wie weit man bei der Verletzung der Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache zu gehen bereit ist. Anstelle eines Unrechtsempfindens macht sich eine Gerechtigkeitsempfindung bei Ungerechtigkeiten breit. Wem das nützt, kann leicht erraten werden.

Tatsache ist, dass Generalklauseln nichts anderes als eine fadenscheinige Lösung geschlechterunsensiblen Schreibens sind. Sie sind in Wirklichkeit ein Unding und drücken lediglich den Unwillen, bestenfalls die Unkenntnis der Verfasser_innen in Bezug auf geschlechtergerechtes Schreiben aus. Zudem stellen Generalklauseln dieser Art geradezu einen Freipass für Schreiberlinge dar, auf gendergerechtes Schreiben und Denken zu verzichten.

Man mag die Ö-Normen und ihre reale Bedeutung einschätzen, wie man will. Fest steht, dass die besagte Norm nach eigener Einschätzung der Austrian Standards eine Hilfestellung bei der Erstellung und Gestaltung von Texten in Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaften und auch im privaten Bereich bieten soll. Selbst im Unterricht an Schulen solle die Norm Anwendung finden. Es bleibt zu hoffen, dass nur wenige Anleihen an dieser österreichischen Norm nehmen, sollte sie durchgebracht werden, und alle anderen weiterhin ihre eigenen, vielfach erprobten Wege gehen: im Namen der Geschlechtergerechtigkeit. (Silvia Stoller, DER STANDARD, 26.3.2014)