Der Altstar und die siegreichen Burschen.

Foto: Stephanie Steindl

Ein gewissenhafter Beobachter: Paul Breitner.

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Samstagmittag in Wien, 20 Grad, Frühlingswetter: Erste Sonnenanbeter säumen bereits das Flussufer, als die U1 die Donauinsel passiert. Paul Breitner ist zu Gast am Sportgelände am Kaiserwasser. Junge Fußballtalente, die meisten entstammen Migrantenfamilien, spielen dort um einen Platz in der österreichischen Auswahl für den FC Bayern Youth Cup. Hergeführt hat sie die soziale Sportinitiative "Käfig League". Breitner steht der Auswahl-Jury vor.

Der Fußballplatz ist in zwei Spielhälften geteilt. Auf dem Streifen dazwischen steht Breitner. Der Weltmeister von 1974 trägt ein rot-weiß gestreiftes T-Shirt, auf der Brust das Bayern-Wappen. Er pendelt zwischen den Hälften und beobachtet die 14-Jährigen Burschen, die hier mit mehr oder weniger Talent um ihr Ticket für das Abschlussturnier in der Allianz-Arena kämpfen. Genauer gesagt, Breitner studiert sie regelrecht. Er sagt: "Sie können mit mir reden, wenn Sie kein Problem damit haben, dass ich dabei die ganze Zeit auf den Platz schaue."

Markenbotschafter mit Klemmbrett

Der 62-Jährige firmiert offiziell als "Markenbotschafter" des deutschen Rekordmeisters. "Der FC Bayern ist eine der zehn bekanntesten deutschen Firmen. Zwei Dutzend Weltkonzerne sind Partner des FC Bayern", sagt Breitner. Er wendet seinen Blick vom Rasen ab und notiert etwas zu einem Spieler. Regelmäßig hält er seine Eindrücke auf einem Klemmbrett fest. Dann redet Breitner weiter: "Diese Firmen sind nicht immer nur beim FC Bayern zu Gast, sie wollen manchmal auch, dass der FC Bayern zu ihnen kommt. Ich repräsentiere in diesen Fällen den Klub."

Breitner, der Handlungsreisende in Sachen FC Bayern: Um die Welt führt ihn derzeit der Youth Cup, den die Münchner in Zusammenarbeit mit Sponsoren und gemeinnützigen Organisationen veranstalten. Nächste Woche fliegt er nach Tokio. "Wir haben heuer acht Länder, die teilnehmen. Die jeweils zehn besten Spieler holen wir für das Finalturnier nach München", erzählt der Mittelfeldstar vergangener Tage. "In Wien casten wir zu 90 Prozent Jugendliche, die in keinem großen Klub spielen, die aus sozial schwächeren Familien stammen: Migrantenkinder, die sich noch zurechtfinden müssen. Ich habe gestern noch mit David Alaba gesprochen, er kommt aus der Käfigliga. So kann der Weg gehen. "

"Jeder Tag ein Überlebenskampf"

Eine klassische Talentsuche also? Breitner verneint: "Das ist nicht primär eine sportliche Sache.  Es kommt nicht darauf an, den zweiten Alaba zu finden." Er sucht nun doch Blickkontakt, wenn es der Spielverlauf zulässt. Sein Blick ist konzentriert und besitzt noch immer eine gewisse Schärfe. Für die Bayern war Breitner in Indien. "Dort kümmern wir uns zum Beispiel darum, dass die Kinder in eine Schule kommen. Es geht darum, einen Weg auf nationaler Ebene zu öffnen", erzählt Breitner.

Das Leben dort hat ihn beeindruckt. "In Neu-Delhi spielen die Kinder ohne Schiedsrichter, barfuß, ohne Aus-Linie. Die brauchen das nicht. Für sie ist jeder Tag ein Überlebenskampf und das zeigt sich auf dem Platz. Da herrscht die Fairness per se", sagt Breitner und deutet auf seinen Oberarm. "In der Champions League steht 'Respect' auf dem Ärmel, aber ich sehe es bei diesen Turnieren auf dem Platz."

Platzinspektion eines Weltmeisters

Dort hat sich das Spiel auf die gegenüberliegende Seite des Feldes verlagert. Wohl daher läuft Breitner ein paar Meter auf das Spielfeld, schafft sich so eine bessere Perspektive. Nach einem Ballwechsel steht Deutschlands Fußballer des Jahres 1981 mitten im Geschehen. Die Wiener Nachwuchskicker umspielen den einstigen WM-Helden, der sich langsam wieder an den Rand zurückzieht.

Neben Breitner beobachten mehrere Trainer die Talente. Der Alt-Internationale müsste eigentlich gar nicht so genau hinschauen, zumindest würden das die meisten nicht tun, in seiner Position, mit seinen Meriten. Breitner aber entgeht keine Aktion.

"Ich hatte keine Vorbilder"

Auf dem Sportgelände sind überall Poster von Teamspieler David Alaba zu sehen. Breitner sagt: "Das ist sehr, sehr wichtig. Wir können sagen: Schaut's her, der Alaba hat's geschafft, aus diesem Turnier heraus." Hatten Sie in Ihrer Jugend Vorbilder? "Nein, ich hatte keine. Ich wollte kein Zweiter sein."

Breitner, das Kind der 68er-Bewegung: Als Fußballprofi kokettierte er mit einem Revoluzzer-Image, eckte gerne mal an und posierte mit einer "Mao-Bibel". Wäre Breitner 50 Jahre später geboren worden, vielleicht würde er heute auch im Käfig spielen. "Das sind die letzten 'wilden' Fußballer-, die nicht von Haus aus reglementiert und zum Teil in ihrer Entwicklung beschnitten wurden", sagt er. "Deshalb geht es hier teilweise auch deftiger zu."

Ein Querkopf

Was Breitner zum modernen Fußball sagt? "Wenn heute ein Achtjähriger in Südamerika aus dem Busch kommt, der Talent hat, dann ist der innerhalb von 14 Tagen in allen Computer drin", sagt Breitner. "Es gibt im Alter von 13, 14 Jahren keine unbekannten Talente mehr. Das System Fußball gibt es vor. Nur so kann man Spieler ohne gigantische Ablösesummen verpflichten", erzählt Breitner.

"Der Fußball heute ist glaubwürdig", fügt er später jedoch bestimmt hinzu. "Der Fußball ist immer ein Geschäft gewesen, zu meiner Zeit hatte er nur nicht diese Möglichkeiten. Damals waren einfach die Zahlen anders." Das klingt aus dem Mund des Rebellen a.D. fast schon präsidial. Von den alten Geschichten will er nichts mehr hören, würgt eine Frage in diese Richtung nach einem Halbsatz ab ("Reden Sie keinen Schmarrn.").

Der neue Bayern-Präsident?

Vielleicht kann Breitner, der Querkopf, seine Sicht auf den Fußball bald mit einem breiteren Publikum teilen. Er ist beim FC Bayern als neuer Präsident und Nachfolger seines alten Weggefährten Uli Hoeneß im Gespräch. Damit würde sich der Kreis schließen für Breitner, der bei den Bayern nach seiner Spielerkarriere bis 2007 keine Rolle spielte. Sprechen will Breitner über dieses Thema in Wien aber nicht. "Das hat mit dem Turnier nichts zu tun."

Ob er mit seiner derzeitigen Aufgabe zufrieden ist? Nach unserer Begegnung nähern sich vorsichtig ein gutes Dutzend Käfigkicker dem Bayern-Botschafter. Während einer versucht, einen Blick auf dessen Klemmbrett zu erhaschen, suchen die anderen das Gespräch mit Breitner. Der antwortet den Burschen gerne. Dann lacht der Altmeister. (Jörn Wenge, derStandard.at, 24.3.2014)