Wien - Die Philosophie hebelt das Selbstverständliche immer wieder aus. Das macht sie so sexy. Jean-Luc Nancy (73) zum Beispiel hat ein Buch mit dem Titel Es gibt - Geschlechtsverkehr geschrieben: seine Antwort auf die Behauptung des Psychoanalytikers Jacques Lacan: "Es gibt keinen Geschlechtsverkehr."

Was nun? Wer das wissen will, liest am besten den Originaltext L' étourdit von Lacan - auf Französisch, weil noch keine Übersetzung existiert - und die in letzter Zeit wieder aufgeflammte Debatte darüber nach. Das kann bei der Entschlüsselung des auf Nancy bezogenen Tanzstücks 15 Variationen über das Offene helfen, das der Regisseur-Choreograf Laurent Chétouane am Wochenende im Tanzquartier Wien gezeigt hat.

Bezüglich der Nebenwirkungen dieser Arbeit zur Livemusik des barocken Domenico Gabrielli und des modernen Nico Muhly fragt man Arzt (Lacan) und Apotheker (Nancy) nicht vergeblich. Das ursprüngliche Quartett aus zwei Männern und zwei Frauen wurde in Wien wegen der Erkrankung einer Tänzerin als Ménage-à-trois gezeigt. Und tatsächlich blieb auch nach 15 Variationen der tänzerischen Annäherung das von Senem Gökçe Ogultekin, Matthieu Burner und Mikael Marklund in Bewegung gesetzte "Offene" des sexuellen Hierseins in Schwebe.

Es wurde geschwungen, getrippelt, gehoben, gesenkt, gedreht und gewendet. Das Trio zeigte seine inneren Regungen zwar offen, aber dabei erschien das Offene als zum Teil komisches Hin und Her auf einem Kreuzweg der Vergeblichkeit. Da tanzte ein dreifacher Sisyphus, den man sich mit Albert Camus als "glücklichen Menschen vorstellen" musste. Nancy, der sich sehr mit Tanz auseinandergesetzt hat, hätte hier seine berühmt gewordene Idee vom "Mit-Sein" oder "Sein-mit-mehreren" wunderbar wiedergefunden. Wenn auch in der Bedeutung, dass dieses "Mit-Sein" letztlich zu nichts Besonderem führt. Weil es eben, wie "Geschlechtsverkehr", auch ein Wort ist, mit dem in unserer Kultur so penetrant gefuhrwerkt wird, dass vielen der Akt selbst vergeht.

Das Fatale an Chétouanes gelungenem Stück ist, dass darin alles anbrennt, was Leidenschaft sein könnte. In der Geschäftigkeit des einander Umtanzens verkohlt der "Lustkörper" (Nancy) bis zur Lächerlichkeit. Eine treffende Satire für ein postmodernes Publikum, das sich immer alle sich bietenden Optionen offenhalten will. Da wohnt "dem Genießen etwas Unmögliches" inne (Nancy). (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 24.3.2014)