Wieder Schweiß, aber anderer Schweiß. Aufgeregtes Geschrei – eine Welle.

Jubel – eine hohe Welle. Enttäuschung – eine Welle mit einer schmutzigen Schaumkrone. Anstrengung – eine Welle, die trägt und trägt.

Foto: Michael Glawogger

Der renommierte österreichische Dokumentarist Michael Glawogger ("Megacities", "Workingman's Death" und "Whores' Glory") ist für sein nächstes Filmprojekt ohne vorgefertigtes Konzept zu einer rund einjährigen Reise aufgebrochen. derStandard.at bringt alternierend mit Süddeutsche.de Tagebücher in Form von kleineren Geschichten, die von diesem filmischen Experiment erzählen. Die Beiträge sind im Stil der Geschichten des Buches "69 Hotelzimmer" geschrieben, das 2015 in "Die Andere Bibliothek" erscheinen wird.

foto: liz pompe

Er starrte auf die Szene, die sich vor ihm abspielte, wie auf eine Buchseite, die er schon zum wiederholten Mal las, ohne sie wirklich zu lesen, sie zu verstehen oder gar das Beschriebene vor seinem inneren Auge entstehen zu lassen. Es lag eine Aufregung in der Luft, die aber eben nicht zu entziffern war: Männer, Stöcke, Geschrei, Fußballer-Dressen, Staub, Gewalt, Spaß, Vollmond, Schweiß, Taschenlampen und ein Auto, aus dem laute Musik dröhnte. Er versuchte, genauer hinzuschauen. Über der Szene ein blasser, hellroter Himmel, ruhig und doch beunruhigend – und Flughunde. Die Flughunde flatternden immer um diese Zeit. Er beneidete sie, sie waren in Bewegung, und sei es nur für die eine Stunde am Tag.

Dann wurde das Geschehen dechiffrierbar. Einer war kurz mit einem zerbrochenen Plastikstuhl geschlagen worden. Jetzt lagen sich die verfeindeten Parteien wieder in den Armen, machten Witze und ließen ihre Stöcke wie beiläufig fallen, als hätten sie sie zuvor nur aus Versehen fest in den Fäusten gehalten – bereit, auf irgendjemanden loszuprügeln. Einer brachte einen Ball, zwei andere brachten Tore. Wieder Schweiß, aber anderer Schweiß. Aufgeregtes Geschrei – eine Welle. Jubel – eine hohe Welle. Enttäuschung – eine Welle mit einer schmutzigen Schaumkrone. Anstrengung – eine Welle, die trägt und trägt. Dann wieder das Auto mit der lauten Musik, aus der Gegenrichtung kommend. Es raste durch die Männer, die mitten auf der Straße spielten, und stieß einen Angreifer nieder, der ungeachtet der Gefahr auf das gegnerische Tor zugestürmt war. Das Auto war schnell wieder weg. Der Spieler lag am Boden, das neue FC Barcelona-Dress zerrissen und schmutzig. Er hielt sein Bein wie einer, der will, dass der Gegner die gelbe Karte bekommt. Kein Schiedsrichter in Sicht. Die Flughunde verschwunden, der Muezzin krächzte die Größe Allahs in die neue Nach hinaus.

Brennendes Herz

Da sah er eine junge Frau, aufrecht, mit einem Plastikbehältnis am Kopf, an ihm vorbeigehen. Das war so elegant, wie es meist elegant war, und ihr T-Shirt war bunt und trug irgendeine Aufschrift wie Sexy Something oder Hello Something. Aber nein, das war kein Stoff, und da war keine Schrift. Es war, als umwehte sie etwas Lebendiges, und vorne drauf war ein Bild. Auch das sah er oft. Trugen die Frauen T-Shirts, dann war es Billigware, oft mit Glitzer, Pailletten oder wilden Mustern. Doch sie hatte ein brennendes Herz auf der Brust. Es brannte wirklich, dachte er noch, und da war sie schon wieder weg. Er hatte in Thailand T-Shirts mit Totenköpfen und blinkenden Augen gesehen, aber das waren Scherzartikel, mit eingenähten Batterien, die schwer am billigen Stoff hingen. Das, was er gerade gesehen hatte, war kein Scherz. Die Frau hatte Sodbrennen, und er hatte es gesehen. Er hatte es am Flackern erkannt und am Schmerz, der die Speiseröhre hochkriecht und wieder und wieder kommt wie ein Feuer, das im Inneren leckt. Heartburn. Der Schmerz war ihm bekannt und verhasst.

Er wollte ihr nachgehen, um zu sehen, ob es wahr war, was er gesehen hatte, aber er wusste, dass es einerseits wohl wahr war und gleichzeitig nicht wahr sein würde. Die Frau hatte sicher nur irgendetwas getragen, dass entfernt an ein Feuer und ein Herz erinnerte. Und doch. Er schaute an sich hinunter und sah, dass er ein weißes Hemd trug an diesem Abend. Eine weiße Leinwand. Er drehte sich schnell weg von den Menschen, die an ihm vorbeigingen, denn er wollte nicht, dass er weiter solche Stoffe sah. Doch hinter ihm röstete ein kräftiger junger Mann große Leberstücke auf einem offenen Feuer. Er war in sich versunken, seine kurze Hose stand vor Schweiß, Ruß und altem Fett, und sein gelbes Hemd mit den großen, hellroten Fünfecken strahlte vor verborgener Melancholie. Der Mann hatte noch keine Namen für seinen Gemütszustand, aber er würde ihn kennenlernen. Denn er hatte nur dieses eine Hemd. Es stand ihm zu gut. Und warum sich ein neues kaufen, wenn das alte passt?

Lebende Kleider

Er musste lachen, als ein Dicker, der aussah, als wiege er 200 Kilo, mit einem Hemd voller blauer Muscheln aus einem Hinterhof kam, um sich geröstete Leber zu holen. Er wollte sie mit allem – mit Zwiebeln, viel Mayonnaise und schön scharf. Er war "Happy as a clam". Er hatte zwar nie verstanden, was das heißen sollte, aber angesichts dieses Mannes in seinem Muschelhemd machte es auf einmal Sinn. Als er sich wieder nach vorne drehte und auf die belebte Straße sah, gingen lebende Kleider auf und ab. Krankheiten glosten auf den Körpern wie stille Feuer oder loderten in glänzenden Gewändern wie flächendeckende Brände. Naives Glück lächelte von einem zerknitterten Anzug, und offene Wunden bluteten in Form eines streng taillierten Kleides. Manche Anzüge saßen schlecht, waren meist zu groß, Hüte wechselten die Farbe, und Brillen trübten den Blick. Die Schneider des Herrn leisteten hier ganze Arbeit.

Es wurde dunkler und dunkler, und der Strom ging an diesem Abend gar nicht erst an, um nicht gleich wieder ausgehen zu müssen. Viele der lebenden Kleider strahlten, und Hosen und langen Röcke schimmerten in düsteren Farben, als würden sie die einzigen bleiben, die diese Personen je tragen würde. Eine Armee von Fußballern zog am Horizont vorbei. Sie würden sich dann wohl zu den Flughunden gesellen. Viele hatten zwei verschieden farbige Kniestrümpfe an.

Er getraute sich nicht, sich zu bewegen, so wirklich war diese unwirkliche Modenschau. Dann stand er vorsichtig auf, bezahlte sein Bier und schlich sich zum nächsten Schneider, den er fand. Es war ein keiner Raum, in dem drei Jugendliche saßen und auf alten Singer-Maschinen beflissen nähten. Sie hatten großflächige Batterielampen, wie es sie hier an jeder Straßenecke zu kaufen gab. Keiner fragte ihn, was er wolle. Ein drahtiger Mann in seinem Alter kam aus einem Hinterzimmer und deutete ihm, aufzustehen. Er nahm seine Maße und notierte sie auf ein fettiges Stück Papier, an dem noch die Reste von Leber, Mayonnaise und Zwiebeln klebten. Der Mann holte einen altmodischen Taschenrechner und rechnete eine Weile. Sein Gewand würde dreieinhalb Millionen Guinea-Francs kosten, und er könne es morgen abholen.

Als er in seinem Hotelzimmer zum lauten Dröhnen der Klimaanlage einschlief, wusste er noch nicht, ob er wagen würde, es zu holen. Und als er morgens aufstand und halbherzig seine Zähne putzte, hoffte er, dass es ein dreiteiliger Anzug sein würde, aus einem Stoff, der sich anfühlen würde wie zerknittertes Papier. Er wusste nur, dass ein Stecktuch in der Brusttasche sein würde, mit einem brennenden Herzen darauf. Sonst hätte er die Frau wohl nie gesehen und die anderen auch nicht. Er starrte auf seinen Koffer und wusste nicht, was er bis dahin anziehen sollte. Sein Herz brannte. (Michael Glawogger, derStandard.at, 23.3.2014)