Wer sich über den Umsturz in der Ukraine ausschließlich in den staatstreuen russischen Medien informiert, kommt zum Schluss, in Kiew hätte eine Bande von Nazis die Macht an sich gerissen. Diese Propaganda erinnert fatal an das blutige Ende Jugoslawiens: An dessen Beginn malten serbische Nationalisten die Gefahr eines Genozids an die Wand, nachdem angeblich die Ustasa in Kroatien wieder an die Macht gelangt sei.

Der politische Diskurs in Russland ist durch Wahrnehmungsblockaden charakterisiert. So wird Wladimir Putins größte Sorge aus der öffentlichen Debatte ferngehalten: Warum sollte nur in der Ukraine ein korruptes, autoritäres Regime von einer Volksbewegung hinweggefegt werden? Die Maidan-Aktivisten wussten zudem genau, dass in Putins Eurasischer Union nur Platz ist für Autokratien (und Kleptokratien), die Russlands Hegemonie hinnehmen.

Wer aber stellt nun in Kiew tatsächlich die neue Führung? Die extrem rechten Gruppierungen - der "Rechte Sektor" und die nationalistische Partei Svoboda - verfügen über wenig Zustimmung. Nach einer aktuellen Umfrage des Kiewer Socis-Zentrums können ihre Anführer, Dmytro Jaros und Oleg Tjagnibok, mit nur circa zwei Prozent der Stimmen bei der für den 25. Mai angesetzten Präsidentschaftswahl rechnen. Witali Klitschko liegt bei 14,6 Prozent, Julia Timoschenko bei 9,7. In der Meinungsumfrage führt mit 21,2 Prozent nicht einer jener Oppositionspolitiker, die sich mehr oder weniger erfolgreich versuchten, an die Spitze des Euromaidans zu stellen, sondern Petro Porosenko, Großunternehmer und Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei Solidarität.

Ähnlich sieht es in den Umfragen für die Parlamentswahlen aus: Der rechte Rand spielt kaum eine Rolle, aber keine der bisherigen Oppositionsparteien kann mit einem Erdrutschsieg rechnen. Darin ist durchaus ein Vorteil zu sehen, denn nur durch eine breite Kooperation der demokratischen Kräfte kann das völlig erodierte Vertrauen der Bevölkerung in die Politik wiederhergestellt werden.

Die Zusammensetzung der Übergangsregierung stimmt dabei optimistisch, denn sie spiegelt die Diversität der Ukraine wider: Premier Arsenij Jazenjuk entstammt einer ukrainisch-jüdischen Professorenfamilie aus dem Westen des Landes. Interimspräsident Oleksandr Turtschinow kommt aus Dnjepropetrowsk im Osten der Ukraine und blickt auf eine Karriere im sowjetischen Komsomol sowie in der Stahlindustrie zurück. Innenminister Arsen Awakow wurde in Baku in eine armenisch-stämmige Offiziersfamilie geboren; seine Machtbasis liegt im ostukrainischen Charkiw. Präsidentschaftskandidat Witali Klitschko, geboren in Kirgisien, ist Sohn eines sowjetischen Offiziers und mit Russisch als Muttersprache aufgewachsen.

Ebenso bunt sind die Hintergründe der Euromaidan-Aktivisten. Am Maidan demonstrierten Rechte und Linke, Ukrainisch- und Russischsprachige, West- und Ostukrainer, Nationalisten und Antinationalisten.

Die Diffamierung des Euromaidan und der Übergangsregierung durch den Kreml täuscht nicht darüber hinweg, dass die ideologischen Brandstifter in Moskau sitzen: Präsident Putin ist nicht bloß kühler Taktiker der Macht, sondern verfolgt, wie Timothy Snyder in einem bemerkenswerten Beitrag in The New York Review of Books festgestellt hat, eine Vision. Seinem geopolitischen Projekt liegt die antidemokratische Ideologie des "Eurasianismus" zugrunde. Einer der Vordenker dieser Idee, der national-bolschewistische Intellektuelle Aleksandr Dugin, fordert seit Jahren die "Befreiung" der Krim und weiterer Territorien. Heute sind diese vermeintlich bizarren Vorstellungen Regierungslinie geworden. (Ulf Brunnbauer Kseniia Gatskova , Kseniia Gatskova, DER STANDARD, 18.3.2014)