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Auch wie hier in Bachtschissarai, der Hauptstadt der Krimtataren, machten viele Bürger bei der Stimmabgabe aus ihrer prorussischen Einstellung kein Hehl.

Foto: Reuters/Karpuchin

"Weliki russki gorod Sewastopol" (Großartige russische Stadt Sewastopol) dröhnt es aus den Lautsprechern an der Lenin-Straße. Gerade einmal fünf Jahre alt ist der Rocksong des russischen Popsängers Alexander Marschall über die Verteidigung Sewastopols während des Zweiten Weltkriegs, doch in der Stadt besitzt er bereits Kultstatus.

Während der Konzerte, die in den Tagen vor dem Referendum und auch am Wahlsonntag selbst in Sewastopol von zahlreichen Gruppen aus Russland gegeben werden und von morgens bis abends andauern, sorgt das Lied immer wieder für patriotische Begeisterung unter den Zuhörern. Die Assoziation des Kampfes gegen den Faschismus übertragen sie mit Leichtigkeit auf die heutige Zeit, nur sitzen ihrer Meinung nach die Faschisten nicht mehr in Berlin, sondern in Kiew.

Ansturm auf Wahllokale

Die Welle der Euphorie hat die neuen Machthaber auf der Krim zur Eile angetrieben. Die Volksabstimmung wurde vom ursprünglichen Termin Ende Mai mehrfach nach vorn verlegt. Die Rech- nung scheint aufzugehen: Trotz Nieselregens ist das Wahllokal 850094 in der Owtschakowzew-Straße schon am Morgen gut gefüllt. Die Bürgerwehr lässt die Wahlwilligen nur portionsweise ein, um Gedränge zu vermeiden.

Die Bürger sollen entscheiden, ob sie zu Russland wechseln oder - mit mehr Autonomie als bisher - bei der Ukraine bleiben wollen. Von einem Wahlwerbeverbot hält man freilich nicht viel. Viele Wähler, drinnen filmende Kameraleute und auch die Männer von der Bürgerwehr tragen das Sankt-Georgs-Band, Zeichen militärischer Tapferkeit und in Sewastopol Symbol der Zugehörigkeit zu Russland. Einige kommen auch mit offen zur Schau getragenen Russlandfähnchen.

Gerade bei den Alten ist die Begeisterung groß. Sie gründet nicht nur auf dem ethnischen Zugehörigkeitsgefühl zu Russland, sondern auch auf der jahrzehntelangen Enttäuschung mit der Politik Kiews und den Ängsten, was die neuen Machthaber dort im Schilde führen. Natürlich wolle er abstimmen, sagt Rentner Nikolai "Ich habe 23 Jahre darauf gewartet." Sewastopol sei immer eine russische Hafenstadt gewesen. Als sie Anfang der 1990er-Jahre zur unabhängigen Ukraine kam, habe niemand die Bürger gefragt, ob sie damit einverstanden seien.

Bei den Unruhen Ende Februar auf der Krim, die den Ereignissen auf dem Kiewer Maidan folgten, kamen zwei Menschen ums Leben. Der im Zuge der Wirren an die Macht gekommene Krim-Premier Sergej Aksjonow verspricht den Menschen jene erhoffte Stabilität, wenn sie für den Beitritt zu Russland votieren. "Das Referendum endet erfolgreich", sagte er bei der Stimmabgabe in Simferopol. Die Entscheidung werde keine Krise hervorrufen, "alles wird friedlich und gut".

"Lieber hier sterben"

Von einem umfassenden Konsens auf der Halbinsel kann jedoch keine Rede sein. Die Krimtataren wehren sich entschieden gegen eine erneute Unterordnung unter Moskau, die sie noch in schlechter historischer Erinnerung haben. In den kompakt von Krimtataren besiedelten Gebieten kam es zu einem breiten Boykott. In Bachtschissarai konnten so teilweise keine Wahlkommissionen eingerichtet werden, teilte Ilmi Umerow, Leiter der Kreisverwaltung, mit. Es hätten sich keine Freiwilligen gefunden, sagte Umerow, der selbst Krimtatare ist. Der einflussreiche Krimtataren-Politiker Mustafa Dschemiljew beschrieb die Stimmung am Sonntag noch drastischer: "Wir haben 50 Jahre für die Rückkehr in unsere Heimat gekämpft und wollen lieber hier sterben, als noch einmal deportiert zu werden."

Der Abstimmung verweigerten sich auch die auf der Krim stationierten ukrainischen Militärs. "Die Marineinfanteristen erhielten Freigang in die Stadt, um ihr Wahlrecht auszuüben", doch er sehe keine Wehrpflichtigen, die an dem Krimer Referendum teilnehmen wollten, sagte der Chef des Marineinfanteriebataillons in Kertsch, Alexej Nikiforow.

Die Loyalität der Soldaten gehört Kiew, und dort wird das Referendum von einer breiten Allianz als rechtswidrig eingestuft. Übergangspräsident Alexander Turtschinow sprach schon am Vorabend von einem "Pseudoreferendum" ohne rechtliche Grundlage, die Resultate würden im Voraus vom Kreml "gemalt".

Selbst die Partei der Regionen des gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch erkennt das Referendum nicht an. Deren Spitzenpolitiker Michail Tschetschetow schlägt vor, der Krim mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit zu gewähren und sie zu "einem touristischen Mekka" zu entwickeln. (André Ballin aus Sewastopol, DER STANDARD, 17.3.2014)