Adolf Muschg hält den Tod und den Menschen für einen Skandal.

Foto: Atsuko Muschg

Standard: Haben Sie noch ein Lieblingswort? Früher mochten Sie Horizont und Firmament, wobei Sie als Kind Firnament schrieben.

Muschg: Wenn ich nicht aufpasse, tu ich's heute noch. Ein neues Lieblingswort? Dämmerung vielleicht, da gibt es Morgen- und Abenddämmerung, das umfasst das ganze Leben. Ich liebe auch Zauberworte, Worte, denen man noch anhört, dass sie etwas beschwören. Und jiddische, wie sie sich im Berlinischen und Wienerischen finden, von Chuzpe auf- und abwärts. Der Beitrag des österreichisch gefärbten Judentums zur deutschen Sprache ist fundamental. Hitlers Verbrechen neben dem Holocaust war die Ausrottung der deutschen Sprachliebe und Sprachpflege durch die Juden, wie Karl Kraus, dem zürnenden Meister, Kafka oder Walter Benjamin. Die deutsche Sprache war ihnen buchstäblich heiliger als deutschen Autoren.

Standard: Sie sagen, nur über Liebe und Tod lohne es zu schreiben?

Muschg: Für Seneca, von dem ich nicht weiß, wie er zur Liebe stand, war der Tod der Schlüssel des Lebens. Und das war lang vor dem Christentum. Oft ist ein guter Tod der beste Lebenslauf, sagt der schlesische Barockdichter Günther. Ich glaube, dass ein Leben, das nicht vom Tod her empfunden wird, nicht funktioniert. Das Bewusstsein der Sterblichkeit ist das Einzige, was dem Menschen Würde verleiht. Einer meiner Freunde hat mit sterbenskranken Kindern gearbeitet. Er erzählte, sie wussten, dass sie sterben. Davon ist ihr Leben aber nicht pechschwarz oder tiefdunkel geworden. Es ist, als wäre jedem Menschen eine gleich wiegende Portion Leben zugemessen. Und das lässt sich nicht quantifizieren.

Standard: Auch acht Jahre Leben können hundert Prozent sein?

Muschg: Das ist ein tröstlicher Gedanke. Das Erhebende für mich daran ist: Es ist ein Glück, sofern es ein Glück ist, dass mir das Sterben nicht schon mit 20 passiert ist, sondern erst jetzt  in absehbarer Zeit passieren wird. Das Faktum, dass der Tod einem nur statistisch nahe ist, ist absurd. Denn Geschichte und Erfahrung beweisen uns das Gegenteil. Noch nie hat jemand nach der Statistik gelebt oder ist nach der Statistik gestorben.

Standard: Sie sagen auch, Liebe sei, wenn man erkennt, dass der Andere ein Anderer ist, und dass man bei dieser Erkenntnis nicht aus der Liebe fallen darf.

Muschg: Da hören Sie selbst, wie ungemein der, der sich diese Sätze geleistet hat, sich übernimmt. Das ist ja fast wie bei den Zehn Geboten, das würde ich natürlich unterschreiben. Aber ich würde auch jeden Satz in unserer Bundesverfassung unterschreiben ...

Standard: Zumal Sie ja selbst an der Präambel mitgeschrieben haben ...

Muschg: Ja. Was ich damit meine: Ich möchte am Nichtdenken in Entweder-Oder-Kategorien festhalten, weil ich es für mich lebbar und für die anderen erträglicher finde. Aber ich bin nicht blind dafür, dass andere wie Thomas Bernhard oder Don Juan eine steile Passion leben bis zum bitteren Ende. Absolute Radikalität der Positionen ist das Eine: Wenn ich mit der stehe und falle, dann muss ich eben bereit sein, notfalls auch mit ihr zu fallen. Das Gegenteil ist die griechische Polis-Kultur des Diskurses. Die geht nicht ohne Kuhhandel und Kompromiss ab, so lange wir noch über Werte reden und nicht nur über den Preis. Auf dieser haarscharfen Linie zwischen Preis und Wert balanciere ich wie jeder andere Erdenbürger auch.

Standard: Sie sind mit einer Japanerin verheiratet, haben in Japan gelebt, Ihre Halbschwester hat als Jugendbuchautorin japanische Geschichten geschrieben. Was fasziniert Sie so an Japan?

Muschg: Für mich ist Japan wie ein Spielzeug, dessen Mechanismus ich verstehen will. Etwa beim Umgang mit Fehlern. Japaner sind der Schamkultur verpflichtet, wir der Schuldkultur. Ich dachte immer, die sei die viel verfluchtere, weil man dabei alles verinnerlicht und so doppelt schuldig wird. Aber langsam komme ich zum gegenteiligen Schluss. Denn in der Schuldkultur gibt es Modelle, wie das christliche, über die Passion, über das Opfer, Vergebung zu erreichen. Wir haben Modelle, wie man sich von Schuld loskauft.

Standard: Und sei es durch Ablass.

Muschg: Der Ablass ist die günstigste Variante; Scham, dachte ich, sei die gnädigste. Das stimmt aber nicht, wie die Bewältigung historischer Traumata zeigt. Die Deutschen hatten Willy Brandt mit seinem Kniefall im Warschauer Ghetto. Damit war der Holocaust zwar nicht aus der Welt, aber die Beziehungsfähigkeit mit den Juden ist zurückgekehrt. Diese Variante ist im Schamsystem nicht drin. Weil Scham unauslöschlich ist, im Gegensatz zur Schuld. Der einzig ernsthafte Weg für einen Menschen, der sich gschamig benommen hat, ist der Suizid. Er muss sich aus der Welt schaffen, dann bekommt er wieder Respekt.

Standard: Wo reihen Sie in diesen Systemen Österreich ein? Wir sind sehr spät draufgekommen, dass wir nicht die Opfer der Nazis waren.

Muschg: Die Österreicher haben etwas, was die anderen nicht haben: den Schmäh. Dessen Abgründigkeit habe ich noch nicht erlotet. Sie haben damit eine ungeheuer variantenreiche Technik, schambesetzte Sachverhalte a priori abzuwehren. Sie haben viel mehr soziale Phantasie als andere. Die Befreiungsvariante war die richtige: Hitler war nie auf dem Heldenplatz, der Platz war leer (lacht). Aber es gibt, weil es eine katholisch erzogene Kultur ist, Verzeihung. Die Protestanten habt Ihr ja weggeschickt, wobei Euch doch der arme Trakl noch gezeigt hat, was möglich gewesen im österreichischen Protestantismus.

Standard: Immerhin hat er eine Gedenktafel auf dem schönen Salzburger Petersfriedhof.

Muschg: Der schöne Friedhof: Das ist Ihre mortale Prävention.

Standard: Ich mag Friedhöfe. Ich bin Wienerin.

Muschg: (lacht) Das ist das Bodenlose an Wien. Österreich ist zwar jetzt nur noch ein Wasserkopf, aber wo einst die Donaumonarchie war, wird jetzt ein Teil Europas rekonstruiert. Für mich ist Österreich-Ungarn das einzige Modell für Europa, an dem man etwas lernen kann; auch dafür, wie man es nicht macht. Das Reich ging letztlich an der Behandlung seiner vielen Minderheiten zugrunde, hätte man eine nach der anderen regimentsfähig gemacht, hätten wir Europa früher gehabt. Noch heute sieht man allein an der Architektur, wie weit Österreich-Ungarn reichte. Das einzig entschieden nicht-österreichische Land ist die Schweiz, in fast jeder Hinsicht. Das Selbstgefühl gehört natürlich dazu, das war damals die Habsburg-Monarchie, und als man diesen Nagel rauszog, fiel das Gebäude zusammen.  Da müssen Sie nur Robert Musil lesen. Er hat Österreich verstanden, und seine utopische Komponente immer mitbeschrieben, wenn auch ironisch.

Standard: Alles lange vorbei; bestenfalls leidet Österreich an Phantomschmerzen, weil dem Körper die Glieder abhanden gekommen sind.

Muschg: Der Phantomschmerz Österreichs ist ein fruchtbarer Boden. Wenn ich in den 60ern nach Graz oder Wien kam, war's dort avantgardistischer als in Deutschland, man hat in Kunst und Literatur viel mehr ausprobiert. Österreich hat's noch im Genom, die Schweiz hatte es nie. Wenn die Avantgarde zu uns kam, die Dadaisten etwa, dann hat man die im Keller auftreten lassen.

Standard: In Österreich hat man die Aktionisten eingesperrt.

Muschg: Ja, aber Sie hatten welche. Die Schweiz hat sich, schon seit Gottfried Keller im 19. Jahrhundert, nie als Teil der deutschen Kultur erfahren  und sich daher auch nicht dafür verantwortlich gefühlt. Und Österreich hat sich deswegen nicht fürs Ganze verantwortlich gefühlt, weil es so lange das Ganze verkörpert hat.

Standard: Weil wir bei Habsburg waren: Sie haben einmal Gabriela Habsburg-Lothringen kennengelernt, damals Botschafterin Georgiens in Deutschland. Sie fanden Sie nett?

Muschg: Eine zutiefst österreichische Begegnung. Sie ist aber nicht mehr im Amt.

Standard: Was ist das Unösterreichischste an der Schweiz?

Muschg: Schweizer sind unfähig zu abgründiger Selbstironie, die in Ihrem Schmäh inbegriffen ist.

Standard: Im Februar, nach dem Schweizer Votum gegen die Personenfreizügigkeit, sagte ein deutscher Politiker: "Die Schweizer spinnen." Sie sind glühender Europäer. Spinnen die Schweizer?

Muschg: Wenn ich jemandem sage, er spinnt, dann sage ich: Er ist imstande, sich unbeschränkt selbst zu schaden. Das haben die Schweizer getan. Aber man muss das Ja zur Abschottung genau analysieren, es ist sehr vielschichtig. Ich versuche, das, was ich ablehne, auch zu verstehen. Und ich sehe, dass es auch gute Gründe für das Votum gab. Es enthält neben Ressentiment und Grenzbesetzungsattitüde auch Protest gegen Globalisierung. Vom Weltgeist aus besehen hat Opposition gegen Migration auch eine solide Seite: Migration ist ja für die armen Länder verheerend. Die, die weggehen, sind die geistig Beweglichsten dort. Das schreckliche Paradox, dass man mit Wirtschaftswachstum Leute anzieht, die in ihrer Heimat fehlen und dass man so den Globalisierungsprozess irreversibel macht, das muss man mitbedenken. Nur kann nicht ein Volk darüber abstimmen. Im Abstimmungsergebnis eines Volkes spiegelt sich das nur als eigene Abschottung wider. Punkt. Fertig. Davon lebt Christoph Blocher.

Standard: Der Souverän hat aber immer Recht.

Muschg: Quatsch. Der Souverän hat allein in meiner Lebenszeit das Frauenstimmrecht fünf Mal abgelehnt, mit Mehrheit der Frauen. Meine Mutter gehörte dazu, mit dem schönen Satz: "Müssen wir den Männern das auch noch abnehmen."

Standard: Warum sind Sie eigentlich so anders, so aufmüpfig geworden? Weil Sie in Japan und den USA lebten? Haben Sie die 68er an der New Yorker Cornell-Uni so geprägt, wo auch der russisch-stämmige Schriftsteller Vladimir Nabokov gelehrt hatte?

Muschg: Ja, dieses Amerika dort war eine andere Welt. Ich habe für Eugene McCarthy Wahlkampf gemacht, der kandidierte gegen Robert Kennedy. Er war eine wunderbare amerikanische Mischung von Gutsbesitzer und Linksliberalem, das gab es bei uns nicht. Er war der wirkliche Vietnam-Gegner, Bobby Kennedy ist auf den Zug dann später aufgesprungen. In diesem Umkreis wurde ich als Mitbürger ernst genommen, damals war ich auf dem Sprung, Amerikaner zu werden. Ich hätte mir aber, trotz Nabokovs Vorbild, nie zugetraut, auf Englisch zu publizieren. In Göttingen oder Berlin oder Zürich wäre ich anders politisiert worden. In den USA gab es Fragen, bei denen man dafür oder dagegen sein konnte, und zwar mit Leib und Blut: Das war Vietnam, das war die Diskriminierung der Schwarzen im Süden.

Standard: Den Schweizern unterstellen Sie, sie hätten kein Nationalgefühl, weil sie seit dem 19.Jahrhundert nur "Nation spielen". Gehen Sie da nicht etwas weit?

Muschg: Nein. Man muss sich als Schweizer eine künstliche Identität herzaubern, ohne die ist die Schweiz etwas völlig Triviales: ein profit making business. Dabei hat die Schweiz eine anständige Geschichte, vor allem im 19. Jahrhundert. Die Schweiz musste sich immer ernster nehmen als sich der Mensch ernst nehmen darf. Die Schweizer nehmen dieses Nation-Spielen sehr ernst und brauchen dafür den Druck von außen. Für den, das ist meine Theorie, sind sie im Grunde dankbar. Was mich so ärgert, ist, dass man dabei einzelne Regionen, vor allem die französische Schweiz, vernachlässigt. Dass man das Andere im eigenen Haus hat, das macht mir die Schweiz lieb und teuer. Dass Christoph Blocher, der als Person ja ganz liebenswürdig ist, diese Chance, das Andere, die Chance, den eigenen Schatten im eigenen Land ernst zu nehmen, abblockt, diskreditiert und diskriminiert begründet meine tiefste Aversion gegen das Phänomen Blocher.

Standard: Volkspartei-Abgeordneter Blocher nannte Sie einen Landesverräter. Er hat seinen Firmensitz hier in Männedorf?

Muschg: Ja. Blochers wohnen zwar politisch auf getrenntesten Bergen, aber sie schätzen einander. Seine Schwester arbeitet links, linker geht nicht. Ich habe mit ihr in Männedorf das bedingungslose Grundeinkommen für alle vertreten. Das ist eigentlich eine österreichische Idee: eine Hofmannsthalsche Phantasie. Das konnten sich früher nur Prinzen leisten. Die Schweiz könnte sich das heute auch leisten.

Standard: Entspricht aber nicht gerade Schweizer Leistungsdenken.

Muschg: Eben, bei uns muss man leiden, um etwas zu verdienen. Zumindest theoretisch.

Standard: Sie werden ja immer radikaler.

Muschg: (lacht) Ja, ich werde immer radikaler, hoffentlich! Wozu werde ich alt?

Standard: Hat Sie Blochers Zuschreibung "Landesverräter" eigentlich gekränkt?

Muschg: Es gibt ja da auch den kleinen inneren Schweinehund, dem es als Märtyrer ganz wohl ist. Man hat dann vor sich selber keine Profilsorgen mehr. Aber das Beschissene im Wortsinne war, dass wir damals Exkremente ins Haus geschickt bekamen.

Standard: Sie haben aber auch jede Menge wichtige Literatur-Preise bekommen, 2004 dann sogar den Deutschen Verdienstorden. Stolz?

Muschg: Stolz ist ein Gefühl, das ich für ein wenig idiotisch halte - aber natürlich ertappe ich mich auch dabei. Wenn mich die Französische Ehrenlegion aufnähme, dann wäre ich stolz. (lacht)

Standard: "Meine Preise", darüber schrieb Thomas Bernhard. Österreich hatte Bernhard, die Schweiz hat Sie. Kannten Sie ihn?

Muschg: Ich habe ihn gut genug gekannt, um zu sehen, wie sehr er die Karikatur Bernhard spielen konnte, aber auch die des Graf Bobby, des galanten Kavaliers, den sich jede Dame für einen Opernbesuch wünscht. Sprachlich hatte er das alles drauf – aber die Schwärze war nicht gleich erkennbar. Hätte man mir bei unserem ersten Zusammentreffen nicht gesagt: "Das ist Thomas Bernhard", hätte ich mich zwei Stunden mit ihm  unterhalten können, wie mit einem etwas zynischen Leitartikler. In einer Bernhard-Ausstellung in Salzburg  habe ich später die Artikel gesehen, die er als junger Mann geschrieben hat: Die lesen sich wie treuherzige Korrespondentenbriefe, in denen sich jemand verdammte Mühe gibt, den richtigen Ton zu treffen und nirgends anzuecken. Das hatte er drauf. Bernhard ist für mich das klischierte Modellexempel eines bodenlosen Österreichs. Die Schwärze Bernhards haben aber auch andere Österreicher, etwa mein Freund  Alfred Kolleritsch. Bernhard hat die Müsterchen nur auf Tapetengröße gebracht.

Standard: Sie nennen sich diplomierter Außenseiter. Sind Sie das gern?

Muschg: Nein, das ist kein Kostüm, das ich mir gerne anziehe. Das hat damit zu tun, dass es mich beinahe mein ganzes Leben gekostet hat, mich von meinen Eltern, von meinem frommen Vater zu trennen.

Standard: Sie waren lang in Psychoanalyse?

Muschg: Drei Jahre, bei Paul Parin. Er stammte aus Österreich-Ungarn, war k. und k. bis ins Mark. Ein Mann von unheimlich souveräner Zivilcourage, der mit seiner Frau Golda bei den jugoslawischen Partisanen auf Faschisten geschossen hatte. Sie betrieben eine Doppelpraxis in Zürich. Da war ich drei Mal die Woche.

Standard: Muss ein Vermögen gekostet haben.

Muschg: Hat es auch. Wenn man bei ihm auf der Couch lag, musste man ab und zu sagen: „Herr Doktor, ich bitte ums Wort." Er hatte einen wahrhaft österreichischen Unernst gegenüber dem Wort Leidensdruck. Er meinte, Psychoanalyse mache man aus Abenteuerlust und Wissensdurst, wie er selbst und Freud. Das war seine unausgesprochene Prämisse und unsere tiefe Differenz. Denn ich hatte Leidensdruck: Ich war ein schwerer Hypochonder und habe mich immer wieder aufschneiden lassen, um meinen Krebs zu finden. Jetzt, da ich ihn habe, schert er mich viel weniger. Damals musste ich mir immer wieder bestätigen, dass ich leben darf. Parin fand, dass einer, der so spannend darüber schreiben kann, seine eigene Psychoanalyse auf dem Schreibtisch hat. Wenn so einer sich auf die Couch lege, dann: to have fun. Er dachte, ich käme aus Jux und Tollerei.

Standard: Er hat Ihnen bei Ihrem politischen Engagement Ihre Kompromisse vorgeworfen?

Muschg: Ja, weil er nie Konzessionen machte. Aber die Schweiz ist ein Land der Kompromisse.

Standard: Österreich ist Kompromiss-Meister.

Muschg: Die Österreicher fangen schon mit dem Kompromiss an. Aber sie sind Verbalradikalisten. Sie sind viel artikulierter, expliziter als die Schweizer, wenn es ums verbale Beziehen von Positionen geht. Sie hören ihrem eigenen Schmäh fasziniert zu, wissen aber, dass das nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat.

Standard: Zum wirklichen Leben: Sie sagen, der Tod sei ein Skandal. Ist nicht eher der Mensch ein Skandal? Oder ist das zu radikal?

Muschg: Nein, nein, wenn man nicht radikal denkt, denkt man überhaupt nicht. Wenn ich mir vorstelle, die Tiere könnten abstimmen, ob sie den Menschen brauchen, dann würde eine überwältigende Mehrheit sagen: Der Mensch ist ein Tier zu viel. Er hat die Güter der Welt zu seinen eigenen Gunsten verteilt. Der Mensch ist das skandalöse Geschöpf.

Standard: Und Schreiben ist der Versuch, mit der Endlichkeit fertig zu werden?

Muschg: Ja, aber zum Glück kümmert sie sich nicht drum. Das Ganzeste, was ein Mensch erreichen kann, ist die Anerkennung der vielen Halbheiten, aus denen er zusammengesetzt ist. Dazu gehört Versöhnung mit der Endlichkeit.

Standard: Worum geht's im Leben?

Muschg: Was Leichteres können Sie mich nicht fragen? (Renate Graber, DER STANDARD, 15.3.2014)