Libyens Premier Ali Zeidan ist die Konfrontation mit Milizen gewohnt, die, um ihre Wünsche durchzusetzen, Parlament und Regierungsgebäude angreifen und Politiker – auch den Regierungschef hat es schon einmal getroffen – entführen. Aber der Konflikt um den mit Erdöl beladenen Tanker, das Bewaffnete verkaufen wollen, um die Einkünfte selbst einzustreichen, hat eine völlig neue Dimension. Das Ölgeschäft, so schlecht es durch die katastrophale Sicherheitslage in Libyen auch läuft, war bisher das Einzige, was der Staat noch in der Hand hatte. Von dem Geld hat er auch die Milizen bezahlt und irgendwie doch bei der Stange gehalten. Wenn nun dieses Monopol auch noch verlorengeht, dann ist es aus mit Libyen.

Das Land steht am Scheideweg. Der politische Prozess wird zwar noch aufrechterhalten: Obwohl die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung teilweise an Sicherheitsproblemen gescheitert sind (nur 47 Sitze von 60 konnten überhaupt besetzt werden), soll nun die Verfassung geschrieben werden; wenn das nicht gelingt, sollen trotzdem Parlaments- und Präsidentenwahlen stattfinden. Aber die Legitimitätskrise, in der sich der politische Übergang befindet, ist so gravierend, dass die Zeichen einer "Somalisierung" an der Wand geschrieben stehen: Es könnte bald politische Institutionen geben, die nur mehr außerhalb, aber nicht mehr innerhalb Libyens anerkannt werden.

Libyen wäre dann endgültig in der Hand von lokalen Milizen und Interessengruppen – denen es teilweise noch gelingen mag, in ihren jeweiligen Gebieten die Ordnung aufrechtzuerhalten, aber nicht mehr durch Kooperation mit dem Staat, sondern nur mehr durch Abschottung. Profiteure sind kriminelle Banden und islamistische Gruppen, die auch kooperieren. Dass der extremistische Islam im Zunehmen ist, zeigt nicht nur die jüngste Mordwelle von Kopten in Bengasi. Auch für Ägypten bedeutet das einen neuen Destabilisierungsherd: Da kann man den Sinai noch so sehr vom Gazastreifen abschotten, wenn jenseits der libyschen Grenze die Jihadisten am Werk sind.

Experten wie Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin beschreiben als bescheidenes Best-Case-Szenario, dass noch ein Minimalkonsens einer Mehrheit erhalten bleibt, die die politischen Akteure und damit den Rahmen für den Übergangsprozess als legitim anerkennt. Andernfalls würden sich die Zentrifugalkräfte, die Libyen zu zerreißen drohen, weiter verstärken. Ganze Bevölkerungsgruppen – vor allem jene Minderheiten, de­nen Kollaboration mit dem Gaddafi-Regime vorgeworfen wird – stehen ohnehin außerhalb des Prozesses.

Als letzte Chance sehen manche das Engagement der USA und anderer Länder, außerhalb Libyens eine „General Purpose Force“ auszubilden und, abgeschottet von der Fraktionierung in Libyen, zusammenzuschmieden und wieder nach Libyen zurückzuschicken. Nicht ein Land schafft sich eine nationale Armee, sondern eine nationale Armee soll einen Staat schaffen. Wenn das nur gutgeht. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 10.3.2014)